Von den Toten auferstanden

Marina Keegan ist jung, hübsch und tot. Was für ein Glück, dass sie zuvor einige Texte geschrieben hat, die der S. Fischer Verlag unter dem Titel «Das Gegenteil von Einsamkeit» (im Original «The Opposite of Loneliness») im Mai des letzten Jahres in aufmerksamkeitsheischender Buchgestaltung publizierte. Auf dem Cover ein grosses Foto der Autorin, eine junge Frau, die etwas verloren in die Kamera blickt. Sie trägt einen Schlabberpulli mit einer grossen, gelben Jacke, an der ein brauner Knopf fehlt, und einen kurzen Blümchenrock. «Nur wenige Tage nach ihrem Yale-Abschluss stirbt die 22-jährige Marina Keegan bei einem Autounfall. Und hinterlässt der Welt brillante Stories voller Lebenslust. Marina Keegan war ein Ausnahmetalent. Sie vereint schwerelosen, sensiblen Optimismus mit literarischer Reife. Die Stories sind klangvoll, witzig, und doch gebrochen, manchmal wild und angriffslustig; sie sind ein stürmisches Plädoyer für die Jugend, die Lebensfreude, begeistern durch ihre Hoffnung und Entschiedenheit: Lasst euch nicht gleich von McKinsey anheuern, findet eure Bestimmung, habt Vertrauen in eure Zukunft! «Eine flammende Aufforderung, die eigene Jugend und den Sinn des Lebens (wieder) zu entdecken», steht auf der Rückseite der Hörbuchfassung. Natürlich bleibt nicht unerwähnt, dass das Buch, eine Internetsensation mit 3,1 Millionen Klicks, monatelang auf der «New York Times» Bestsellerliste stand.

Verkauft man so heute Bücher? Kein Zweifel, mit «The Opposite of Loneliness», ihrer letzten Kolumne für die Yale Campus Zeitschrift, ist Marina Keegan ein Text gelungen, der sich durch Authentizität vom Gros des Generationsgeschreibes absetzt; er bildet einen wohltuend Kontrast zu den Fin-de-Siècle-Gedichten von Julia Engelmann, wie sie im Newsletter vom 20. Mai 2018 besprochen wurden. Doch dem Verlag scheint es nicht in erster Linie darum zu gehen, dass Marina Keegan ein literarisches Talent war. Sein Verkaufsargument erschöpft sich vielmehr in der traurigen Geschichte, dass Marina Keegan auf der Fahrt mit ihrem Freund nach Cape Code zur Geburtstagsfeier ihres Vaters mit nur 22 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Der Tod als Verkaufsargument läuft nicht erst seit Wolfgang Herrndorf und David Foster Wallace, das Makabre, das Echte verkauft sich, wenn Verlage in Zeiten von E-Books in einer allgemeinen Umsonst-Kultur nochmals kurz aufatmen und eine letzte Party zur Verabschiedung des Gutenbergzeitalters schmeissen. Natürlich wird das grässliche Verkaufskonzept Keegans intelligenten Stories und Essays nicht gerecht. Vor allem hätte der Text «The Opposite of Loneliness», nun schon das Vermächtnis dieser jungen und junggestorbenen Schriftstellerin, etwas Besseres verdient. Ausserdem zeugt die Unterschiedlichkeit der Texte von einer Autorin, die sich ausprobiert hat. Die noch nicht genau wusste, wohin mit sich selbst. Die auch genau das in «Das Gegenteil von Einsamkeit» thematisiert und damit ein lebensbejahendes Pamphlet verfasst hat, das sich zu Gemeinschaft, zum Zweifeln, zum Leben bekennt. «Einige von uns wissen genau, was sie wollen, und sie sind auf dem Weg dorthin. Euch sage ich: Herzlichen Glückwunsch, aber ihr kotzt mich an», schreibt sie. «Some of us know exactly what we want and are on the path to get it. To you I say both congratulation and you suck.» Die Worte einer jungen Frau, die Lust auf das Leben hat und schreiben kann. Mit «Das Gegenteil von Einsamkeit» gelang Marina Keegan ein Porträt ihrer Generation.

Millionen, die zählen, Eltern wie ihre erwachsenen Kinder, müssen sich in den nachgelassenen Worten Marina Keegans wiederfinden. Die Hommage an die Jugend («Wir sind so jung, wir sind gerade 22 Jahre alt, wir haben so viel Zeit») wird in ihrer entsetzlichen Vergeblichkeit zum Testament. Zweiundzwanzigjährige hinterlassen freilich keinen letzten Willen, ihre Lebenszeichen werden postum dazu. Und das Internet verbindet die Elemente weiland bürgerlicher Trauer – von der Meldung über die Anzeige bis zum Nachruf – und vervielfältigt sie zu einer virtuellen Feier des Lebens. Es gibt das literarische Genre des Soldatenbriefs; es gibt letzte Notizen und Protokolle von Todgeweihten, letzte Worte von Zum-Tode-Verurteilten. Nun schafft das Internet, das keine Spuren tilgt, das Genre der Retrospektive und der Feier eines noch ganz ungelebten Lebens. Man kann darüber streiten, ob es gerecht ist, Leichenreden auf Marina Keegan zu halten, nur weil sie eine Elite-Universität besuchte, Geschriebenes hinterliess, Freunde im Journalismus hatte und so klug, schön und jung war, wie man es sich für die eigenen Kinder wünscht. Ist das zu früh zerstörte Leben einer weniger begabten, weniger attraktiven und weniger erfolgreichen Frau auch weniger wert? Wie Figura zeigt, vermutlich schon. Doch das Web kann nicht fair und gerecht sein. Es ist Forum, nicht Gericht.

Marina Keegan glaubte daran, dass sie die Pflicht hätte, Gutes zu tun zum Wohle der Gesellschaft, in den Künsten, im Bürgerengagement, in der Forschung. Fast jeder Studienanfänger komme mit großen altruistischen Zielen und gut die Hälfte gingen mit dem Ziel, in der Finanzindustrie reich zu werden. So dachte Marina Keegan. Es ist zu fürchten, dass nicht wenige, die jetzt gerührt um die Idealistin trauern, mit der quicklebendigen Kritikerin nichts anzufangen wussten. «Wir können uns verändern, wir können neu anfangen, der Gedanke, dafür sei es zu spät, ist komisch, er ist verrückt. Wir sind so jung. Wir können nicht, wir DÜRFEN nicht dieses Gefühl für unsere Möglichkeiten verlieren. Denn am Ende ist es alles, was wir haben.»

Vergleicht man zum Schluss die Texte von Julia Engelmann mit jenen von Marina Keegan, beides Ikonen ihrer Generation, offenbaren sich in fast idealtypischer Weise Unterschiede zwischen der europäischen und der amerikanischen Geisteshaltung. Vermutlich wird jeder, der schon einmal länger in Amerika gelebt hat, bei der Rückreise nach Europa den lebensbejahenden, oft erschreckend naiven, jedoch gerade deswegen so unerschütterlichen Optimismus vermissen, der für so viele Amerikaner bezeichnend ist. Der mit den Erfolgen der Vergangenheit begründete Optimismus führt zur festen Überzeugung, dass man auch kommenden Herausforderungen gewachsen sein wird. Dieser Optimismus im Denken führt zu einem Pragmatismus im Tun. Es ist kein Problem, Probleme zu bewältigen. Probleme sind nicht eine Gefahr. Sie sind eine Herausforderung. Eine Analyse des Problems ist gut und wichtig. Eine Lösung ist besser. Perfektionismus ist wunderbar. Aber vielleicht genügt ja vorerst auch ein brauchbares Provisorium. Das dafür schnell und zweckmässig zur Verfügung steht. Der Glaube an die Machbarkeit findet sich tagein, tagaus an unterschiedlichsten Stellen und in verschiedensten Situationen. Faszinierend ist, dass die Ursprünge des Strebens nach besseren Lösungen für tägliche Herausforderungen einer Siedlergeneration entstammen, die vor allem aus Kontinentaleuropa kam. Menschen, die nach neuen Technologien und Techniken suchten, fanden in der Neuen Welt ein paradiesisches Betätigungsfeld. Die europäischen Pioniere machten Amerika zu dem, was es dann für viele auch tatsächlich geworden ist: ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die nach vorne strebenden Pioniere sind heutzutage in Europa selten geworden. In den USA hingegen haben es Pioniere aus aller Welt immer noch einfacher. Man findet sie deswegen öfter. Auch im Alltag. Und zwar überall da, wo es um zweckmässige, der Situation angemessene Lösungen für ganz einfache ökonomische, gesellschaftliche, aber auch zwischenmenschliche Herausforderungen geht. Da, wo es schlicht darum geht, Probleme zu lösen und nicht darum, über sie zu lamentieren. Ebenso unverkrampft gilt in den USA, dass alles erlaubt ist, was nicht verboten wurde im Unterschied zu Europa, wo alles verboten scheint, was nicht erlaubt wurde. Das schafft ein Umfeld in Amerika, das für Neuerungen offen ist. Man wagt etwas, probiert und schaut, was dabei herauskommt. Hat man Erfolg, wird aus der Idee ein Business. Scheitert man, ist es kein Unglück. Man lernt aus den Fehlern und macht es ein nächstes Mal besser. Kritisch ist nicht das Hinfallen, sondern das Liegenbleiben. Wer wieder aufsteht, muss nicht gegen Schadenfreude kämpfen, sondern darf mit Anerkennung rechnen. Ganz offensichtlich lassen sich junge Amerikanerinnen und Amerikaner nicht so sehr von der Zukunft verunsichern wie ihre europäischen Alterskollegen. Optimismus und Pragmatismus spielen, wie sich den Versuchen von Marina Keegan entnehmen lässt, in den USA eine wichtige Rolle. Etwas mehr von beiden könnte Europa nicht schaden. Jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck, wenn man sich Julia Engelmanns liedhafte Textformen über Bummelei, Handlungsaufschub und Prokrastination zu Gemüte führt. Trotzdem oder gerade deswegen verlohnt es sich, die Texte der beiden privilegierten Twentysomethings zu lesen, gerade und vor allem dann, wenn man tagtäglich mit jungen und intelligenten Menschen, der so genannten Generation Internet also, zu tun hat und sie in ihrem Wunsch nach Einzigartigkeit begreifen möchte.

Christoph Frei

www.akademisches-lektorat.ch