ALLES IST ZEICHEN

Um zu kommunizieren oder etwas mitzuteilen, benutzen wir Zeichen, also Wörter, aber auch Bilder, Gesten, Formeln, Symbole oder Allegorien. Unser Gegenüber, das heisst der Empfänger der Kommunikation, muss die Botschaft, die wir senden, übersetzen oder decodieren, da die Sache selbst in Form von «Objekten» oder «Handlungen» ja nicht zu vermitteln ist. In Zeichenprozessen werden Zeichen konstituiert, produziert, in Umlauf gebracht und rezipiert. Anders wären Kognition, Kommunikation und kulturelle Bedeutungen nicht möglich. Die semiotischen Fragestellungen sind sicher älter als alle wissenschaftlichen Einzeldisziplinen und daher geeignet, deren Isolierung zu überwinden, Gemeinsamkeiten zu suchen und Unterschiede vergleichend herauszuarbeiten. Semiotikerinnen und Semiotiker fragen allgemein danach, was alles Zeichen sein kann, nach den Ordnungen und Strukturen von Zeichensystemen, den verschiedenen Funktionen und Gebrauchsweisen von Zeichen, nach ihrer Performativität und Ästhetik sowie den Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen und Medien. (Da alles Wahrnehmbare, das in irgendeiner Form auf etwas anderes verweist, als Zeichen gilt, ist grundsätzlich dann von einem Zeichen die Rede, wenn gesagt werden kann: «aliquid stat pro aliquo», wenn also etwas für etwas anderes steht.)

«Semiotik», zum Beispiel die Theorien von Roland Barthes oder Charles S. Peirce, nennt sich die Wissenschaft, die sich mit Zeichensystemen aller Art befasst. Zwar wird über den Gegenstandsbereich der Semiotik seit der Antike debattiert, eine eigenständige Disziplin entwickelte sich aber erst mit den Studien von Charles S. Peirce Ende des 19. Jahrhunderts. Semiotik-Klassiker sind oft gleichzeitig Leitfiguren der strukturalistischen Linguistik und Philosophie, allen voran Ferdinand de Saussure und Roland Barthes. Diese bezeichnen ihre Zeichentheorien auch als «Semiologie». Natürlich bedeutet auch in diesem Kontext Kommunikation Mitteilung. Genauer gesagt, die Übermittlung von Informationen durch den Gebrauch von Zeichen. Ohne diese Informationsvermittlung wäre jeder Umgang der Menschen miteinander undenkbar. Daher ist die allgemeine Kommunikation durch den Gebrauch von Zeichen in nahezu allen Bereichen des kulturellen Lebens zu beobachten.

Da somit alles, was wahrnehmbar ist und in irgendeiner Form auf etwas anderes verweist, als Zeichen gilt, lassen sich die vorstehenden Überlegungen im Sinne der «Semiotik» wie folgt konkretisieren:

ERSTENS:
Manche Zeichen wie die Coca‑Cola-Flasche mit ihrem Hüftschwung und ihren geschwungenen Rillen, die drei Streifen von «Adidas» oder das ikonische Zungen-Logo der «Rolling Stones» sind rascher lesbar wie Worte. Wir sehen und erkennen sogleich, was damit gemeint ist.

ZWEITENS:
Bei den meisten Menschen geht die Wahrnehmung vom Bild zum Text. Besser erinnern wir uns an Zeichnungen als an Worte, erkennen ein Muster eher in visuellen Darstellungen als in Sätzen. Der strukturale Mensch, so Roland Barthes in «Die strukturalistische Tätigkeit», nimmt das «Gegebene, zerlegt es und setzt es wieder zusammen, und zwar mit dem Ziel, ein ›Objekt‹ derart zu rekonstituieren, dass in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ›Funktionen‹ sind).» So wie viele der bedeutenden Semiotiker vertritt auch Roland Barthes die Ansicht, dass alles Zeichen sind: ein Dollar-Schein, ungepflegte Haare, Tätowierung oder ein teurer Tesla vor der Haustür; ein Gepäckchaos am Flughafen, ein Stau auf der Autobahn, eine Ferien-Destination wie Sylt oder ein Bellini in «Harry’s Bar». Nichts wird nur als das wahrgenommen, was es ist. Ein Bellini ist eben mehr als weisses Pfirsichpüree mit Prosecco, vor allem auf der Theke von «Harry’s Bar» in Venedig. Erst dort ist ein Bellini ein Bellini. – So befördern die Semiotik und der Strukturalismus das schiere Vergnügen am Lesen der Welt, am Durchstreifen der Zeichenwälder und imaginären Ordnungen, die R. Barthes wie kein Zweiter in den «Mythen des Alltags» vorführt. Allmählich wird vom Rezipienten oder Betrachtenden alles als ein Zeichen für etwas wahrgenommen und interpretiert. (Wofür stehen also das Briefpapier Rilkes und sein eingestanztes Familienwappen? Was haben sie uns als Zeichen zu sagen?)

DRITTENS:
Wenn somit nichts, wie Figura zeigt, nur als das wahrgenommen werden muss, was es ist, kann man zum Schluss gelangen, dass überall dort, wo wir nicht auf Natur, sondern auf Kultur stossen, wir auch Zeichen finden. Natürlich sind Zeichen immer auch «Zeichen im Gebrauch», das heisst, die Bedeutung des Zeichens kommt durch die Interpretation des Zeichenbenutzers in einem bestimmten Handlungszusammenhang zustande. Wichtig für die Kommunikation ist natürlich die Bedeutung, nicht die Benennung. Und die Bedeutung konstituiert sich, wie wir gesehen haben, im Gebrauch.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Bellini by Harry’s Bar in Venice