BE YOUR ANGEL WITH YOU!

«Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt», schreibt Robert Musil in seinem Roman «Der Mann ohne Eigenschaften», «muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.»

Der Möglichkeitssinn beschreibt also die Fähigkeit, das zu denken, was sein könnte. Grammatikalisch gesprochen, können Verben in ihrer Form so verändert werden, dass sie ausdrücken, ob es sich um eine reale Tatsache, einen Wunsch oder eine Aufforderung handelt. Um eine tatsächliche Begebenheit auszudrücken, verwendet man den Indikativ, um einen Wunsch oder eine Möglichkeit im Sinne einer besseren oder schlechteren Welt zum Ausdruck zu bringen, wird der Konjunktiv verwendet. Man kann die beiden Formen auch Wirklichkeitsform und Möglichkeitsform nennen, was meint, dass wir ohne den Konjunktiv gar nicht imstande wären, uns eine bessere oder schlechtere Welt vorzustellen.

Das, was nicht ist und trotzdem gedacht werden kann, sind freilich keine Gebäude aus Dunst und Nebel für Träumer und Phantasten, sondern Aussichtspunkte, von denen aus die Welt deutlich überschaubarer erscheint oder einfach nur ganz anders aussieht und Dinge gesehen werden können, die sich sonst immer nur hinter dem Horizont zutragen. Und was man dort zu sehen bekommt, trägt verschiedene Namen: Vorahnungen, Utopien, Visionen und Befürchtungen, Wünsche oder Zweifel.

Ob man nun in der Phantasie und der Phantastik das Denkbare, aber Unwahrscheinliche finden will, eine Halluzination oder Projektion einer Spiegelwelt, die gelegentlich zum Faktum mutiert, vielleicht erzeugt sie dabei eine neue Wirklichkeit, die vormals noch als unrealistisch gelten musste. Ob man in ihr nur das Unvorstellbare und Widersprüchliche sieht, das sich zwischen dem Vollkommenen und dessen Gegenbild ansiedelt, um ihren Raum zur Ausgestaltung von Alternativen in allem zu finden, was dem Intellekt und dem Gefühl anstößig ist, so ist es dessen ungeachtet auch dem Vorhaben nicht hinderlich, zu zeigen, wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist.

Entscheidender aber ist, wie Robert Musil schreibt, dass es die Wirklichkeit ist, «welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen». Sprachliche Voraussetzung bleibt der Konjunktiv, also die Möglichkeitsform. Womit wir wieder in der Gegenwart wären, auch wenn positive Möglichkeiten zurzeit für viele im Winterschlaf liegen. Und für diese sieht es nicht danach aus, dass die Wirklichkeit sie wecken möchte. Der Möglichkeitssinn scheint lahmgelegt, auch wenn im Rückspiegel des Lebens meist ein Schleier aus Wehmut über den ungenutzten und verpassten Möglichkeiten der Vergangenheit liegt. Vielleicht zeigt sich gerade heute, wie falsch das im Grunde ist. Ist nicht gerade jetzt der Moment, um sich bei all den ungenutzten Möglichkeiten zu bedanken, dass sie für uns da waren. Dass sie uns träumen liessen, was möglich schien. Um dann, wenn es wieder möglich ist, dem Möglichkeitssinn zu folgen, sollte man ihn auch umsetzen, eine Kinokarte hier, eine Flasche Bordeaux da. Denn ohne die Möglichkeiten zu nutzen, kommen sie schliesslich irgendwann überhaupt nicht mehr, auch wenn sich das schon wieder wie Wirklichkeitssinn anhört.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
«L’ange protecteur» von Niki de Saint Phalle