BIST DU GANZ OHR?

Wohl jeder hat schon einmal gehört, dass, wenn wir mit Andern kommunizieren, es nicht nur um den sachlichen Inhalt dessen geht, was wir sagen, sondern ebenso auf die Art und Weise ankommt, wie wir etwas sagen. Naturgemäss gibt es vier verschiedene Ebenen der Kommunikation. Demzufolge enthält jede Botschaft nicht nur eine Aussage über den Inhalt der Mitteilung, sondern ebenso über die Beziehung, in der wir zum Gegenüber stehen. Die Mitteilung sagt etwas über uns selbst, ein Faktum, dem wir uns auch durch Schweigen nicht entziehen können, und sie kann ebenso als Appell verstanden werden, da wir mit dem, was wir äussern, etwas bewirken wollen. Aus diesem Grund kann eine scheinbar simple Frage wie «Hörst du mir eigentlich zu?» bereits zu einem grösseren Streit führen.

Vor allem politische Debatten geraten zunehmend in Sackgassen, weil wir einander immer weniger verstehen. Die gesellschaftliche Kommunikation scheint ins Stocken geraten, immer mehr Menschen haben den Eindruck, nicht gehört zu werden, und das mit fatalen Folgen: Das permanente und als selbstverständlich empfundene Gefühl, unentwegt überhört zu werden, versiegelt nicht nur unsere Ohren, sondern verschliesst auch unsere Herzen. Wer glaubt, nicht gehört zu werden, mag irgendwann nicht mehr zuhören. Allerdings können in einer auseinanderdriftenden Welt Gemeinsamkeiten nur dann noch gefunden werden, sofern wir uns dem Andern nicht verschliessen.

Unsere gegenwärtige Situation hat unterschiedliche Ursachen. Die Corona-Pandemie scheint jedenfalls nicht nur eine Gesundheitskrise zu sein. Vielmehr äussert sie sich als Sinnkrise einer westlichen Gesellschaft, die sich zusehends fragmentiert, verstärkt durch die sozialen Netzwerke mit ihren Filterblasen, sowie dem allgemeinen Gefühl eines politisch ökonomischen Kontrollverlusts.

Jene Teile der Bevölkerung, die sich ausgeschlossen fühlen, suchen sich ein Ventil für ihren Unmut. Man hört sich gegenseitig nicht mehr zu, und der Austausch von Argumenten und Gegenargumenten kommt zum Erliegen. Aus politischen Gegnern werden unversöhnliche Feinde. – Vielleicht sollten wir uns einfach besser zuhören. Wem zugehört wird, der fühlt sich verstanden. Und wer zuhört, lernt nicht nur seine Mitmenschen besser kennen, sondern auch sich selbst. Nur, wie geht das überhaupt?

Bist Du bereit, dann helfen vielleicht die folgenden fünf Lektionen:

A) WILLST DU ÜBERHAUPT ZUHÖREN?

Wer zuhören will, muss sich aktiv dazu entscheiden, zuhören zu wollen. Du muss zum Beispiel wirklich wissen wollen, was die andere Person umtreibt und wie es ihr geht. Hierfür musst Du ehrlich neugierig sein. Neben dem aufrichtigen Interesse musst Du auch bereit sein, etwas von Dir selber preiszugeben, schliesslich sind gute Gespräche keine Einbahnstrasse.

B) HALTE DICH ZURÜCK!

Ein guter Zuhörer beziehungsweise eine gute Zuhörerin schafft es, den eigenen Impuls zu kontrollieren und zu zügeln. Das heisst, Du musst lernen, Pausen auszuhalten. Sag daher nicht: «Das kenne ich, so ging es mir auch einmal …». Allfällige Anekdoten sind der ultimative Verbindungskiller, aus denen lediglich ein oberflächliches Hin und Her entsteht. Sei daher kein ungeduldiger Satz-Vollender, und zügle Deinen Impuls, selbst wenn es Dir schwerfällt, das langsame Denken und Sprechen Deines Gegenübers nicht zu unterbrechen. Du musst somit lernen, Pausen auszuhalten.

C) ANTWORTE MIT DEM KÖRPER!

Dein Körper verrät viel. Schau daher Deinem Gegenüber in die Augen, aber starre ihn nicht an. Nicke stattdessen, aber nur, wenn Du Zustimmung geben willst. Auch wenn wir nicht alle Therapeuten sind und es auch nicht werden sollen, ist die Körpersprache ein wichtiges Mittel, um aufrichtiges Interesse zu signalisieren. Lass deshalb Dein Handy in der Tasche.

D) ACHTE AUF DETAILS!
Merke Dir die kleinen Dinge. Statt Dich von den eigenen Gedanken und Erinnerungen fortspülen zu lassen, kannst Du die Haltung und Sprache Deines Gegenübers beobachten: Du erfährst mehr, wenn Du nicht nur auf die Worte achtest, sondern auch auf die Gestik, das Gesicht und die Tonlage. So schwingst Du Dich auf den Redenden ein.

E) SEI EIN FREUND, KEIN RICHTER!
Gute Zuhörer richten nicht. Sie widerstehen auch dem Impuls, dem Gegenüber Ratschläge zu geben, sofern sie nicht explizit danach gefragt werden. In einem Zeitalter der hektischen Dauerkommunikation wird echtes Zuhören so zu einem seltenen Gut und schönen Geschenk, denn wem Du zuhörst, dem schenkst Du Deine Zeit.

Bild:
MERET OPPENHEIM
The Ear of Giacometti, 1977
SCULPTURE, Bronze

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich