Dein Kind muss üben, nicht Du

Viele Eltern meiner Schülerinnen und Schüler bemängeln, dass ihre Kinder in Primar- und Sekundarschule deutlich zu wenig üben. In der Regel, monieren sie, werde zu Beginn des Semesters ein sogenanntes Manuel ausgeteilt, zum Beispiel über ein Grammatikthema wie die Wortarten, das die Klasse bis zu einem festgesetzten Zeitpunkt durcharbeiten müsse, bevor es von den Lehrpersonen eingezogen werde. Und dies, obwohl heute 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung von Illettrismus betroffen sind. Für Schülerinnen und Schüler, die sich für eine Aufnahmeprüfung vorbereiten wollen, bedeutet das, sie können nicht richtig lesen, was sich auch in der Mathematik bemerkbar macht, da sie Textaufgaben zu wenig genau verstehen, oder sie haben überhaupt keine Ahnung, wie sie einen Aufsatz schreiben sollen, weil sie in ihrer Schulkarriere höchstens einen oder zwei Texte geschrieben haben, die nicht selten von den Banknachbarn korrigiert wurden. Natürlich lässt sich jetzt leicht argumentieren, dass Schüler, die ein Deutsch-Coaching für eine Aufnahmeprüfung brauchen, sowieso keine echten Gymnasiasten seien und es zweitens nicht Aufgabe der Volksschule sei, die wenigen Aufnahmeprüfungskandidaten für die ZAP vorzubereiten. Beides trifft sicher zu, trotzdem ist der Befund für ein Land mit einem der teuersten Bildungssysteme erschreckend. Naturgemäss handelt es sich dabei um ein Tabu, und zwar für Volks- wie auch für Mittelschulen. Anders formuliert, werden die eigentlichen Ursachen für mangelnde Sprachkenntnisse kaum je angesprochen, weil sie aus moderner pädagogischer Sicht unangenehm sind. Im Grunde liegen sie in Missverständnissen gängiger Bildungsauffassungen. (Ebenso wie das Faktum, für viele ein Detail, dass kaum ein Schüler weiss, wie man einen Füller in die Hand nimmt und über die Kompetenz verfügt, damit zu schreiben und Fehler ohne flüssig Tipp-Ex zu korrigieren.) Selbstverständlich schreibe ich das nicht einfach so vor mich hin. Es geht mir ebenso wenig um ein allgemeines Schul-Bashing. Dafür war ich selber zu lange Lehrer an einem Zürcher Gymnasium. Ich möchte nur festhalten, was ich tagtäglich sehe und erfahre, ohne dabei den Anspruch zu erheben, allen in jedem Fall gerecht zu werden. Das ist freilich auch nicht meine Absicht.

Sollte sich allerdings im Sinne Walter Benjamins die Wahrheit im Extrem zeigen, steht es nicht gut um Schüler und Schülerinnen in Primar- und Sekundarschulen, was selbstredend ein teilweise ungenügendes Bildungsniveau an Mittelschulen und Gymnasien nicht ausnimmt. Dass dieser Sachverhalt an Hochschulen weiterwirkt, kann niemanden verwundern.

Lange Zeit war die Schule ein Ort der «Stoffhuberei», auch «Überfütterung» oder «Pädagogische Bulimie» genannt, was einem langweiligen, oft einseitigen und mechanischen Frontalunterricht entgegenkam. Daher werden heute pädagogische Alternativen propagiert. Mit der Kompetenzorientierung soll zum Beispiel gegen die «Stoffhuberei» gewirkt werden, zumal die Wissensvermittlung dank des Internets, wo alles Wissen abrufbar ist, teilweise hinfällig wird. Das selbstgesteuerte Lernen, wo die Lehrpersonen nur noch als Coaches fungieren, soll jetzt im Vordergrund stehen, damit die Schule auf das lebenslange Lernen vorbereitet. Und das Üben wird zum überholten Drill ohne Sinn erklärt.

Sollten neue pädagogische Auffassungen nötig sein, dürfen sie nicht dogmatisch vertreten werden. Andernfalls wirken sie verheerend. Ein falsches Verständnis von Kompetenzen, Unklarheiten über die Bedeutung des Wissens beim Lernen und eine Fehleinschätzung des Übens sind eine Hauptursache des Illettrismus. Wissen bleibt eine grundlegende Voraussetzung für das Lernen. Wer über kein Sachwissen verfügt, kann weder verstehen noch Probleme lösen. Wissen in Informationssystemen kann jemand nur abrufen, wenn er über ein geordnetes Grundlagenwissen verfügt. Und vor allem junge und schwächere Lernende können das nötige Grundlagenwissen nicht selbst gesteuert abrufen, sondern es ist im Anfängerunterricht angeleitet zu erarbeiten, also vornehmlich in einem guten «Frontalunterricht», der neu jetzt direkte «Unterrichtsinstruktion» heisst und als besonders effizient gilt.

Grundfertigkeiten bilden in allen Lernbereichen eine entscheidende Voraussetzung für erfolgreiches Lernen. Wer in einer Fremdsprache nicht automatisch konjugieren kann, wird in dieser Sprache nie kompetent kommunizieren, und wer die Prozentrechnung nicht wie im Schlaf beherrscht, wird bei anspruchsvolleren Rechenproblemen immer scheitern, weil ihm die Voraussetzungen dazu fehlen. Aus diesem Grund sind solche Grundfertigkeiten intensiv einzuüben.

Ein guter, Kompetenzen orientierter Unterricht ist eine nützliche didaktische Weiterentwicklung. Nur ist er oft unpräzis definiert, so dass sich Missverständnisse entwickeln. Er ersetzt nicht die Wissenserarbeitung, denn die meisten Kompetenzen sind fachgebunden und lassen sich nur im Zusammenhang mit Fachwissen entwickeln. Zweitens ersetzen Kompetenzen die Fertigkeiten nicht. Sie sind für den Erwerb und die Anwendung von Kompetenzen eine zwingende Voraussetzung und müssen deshalb immer wieder eingeübt und automatisiert werden.

Selbstverständlich sind Entwicklungen im Unterricht wie Kompetenzen, selbstgesteuertes Lernen und Abbau der Wissensüberfülle wertvolle Neuerungen. Nimmt man sie aber als absolut und kritisiert man das Einüben von Fertigkeiten als ewiggestrig, so wird die Zahl der Illettristen weiter steigen.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich