DIE WISSENSCHAFT DENKT NICHT

Martin Heideggers Satz «Die Wissenschaft denkt nicht» erscheint auf den ersten Blick so apodiktisch wie arrogant. Postuliert hat ihn der umstrittene Philosoph im Wintersemester 1951 in seiner Vorlesungsreihe «Was heisst denken?» Heideggers Statement hallt bis heute nach. Es gehört auch im Jahre 2022 zum guten Ton mancher humanistisch gebildeter Intellektueller, etwas geringschätzig auf die Naturwissenschaften herabzublicken. So war der Satz allerdings nicht gemeint. Heidegger möchte damit vielmehr zum Ausdruck bringen, dass die Wissenschaft zwar das Seiende analysiert, erklärt und berechnet, jedoch nicht über das Sein als sogenannten Auslegungshorizont nachdenkt. Wenn die Wissenschaft, wie Heidegger sagt, «nicht denkt», dann meint dies, dass sie nicht über das Sein nachdenkt, also gleichsam «seinsvergessen» ist. Stattdessen befasst sich die Wissenschaft mit konkreten Einzelerscheinungen. Das Ganze, in welches die untersuchten Einzelgegenstände eingebunden sind, also die Welt als «Bedeutungsganzheit», kann die Wissenschaft jedoch nicht thematisieren.

Der deutsche Wissenschaftstheoretiker Gert Scobel diskutiert in seinen Ausführungen über Martin Heidegger den Unterschied zwischen wissenschaftlichen und philosophischen Fragen. Vereinfacht gesagt, lässt sich dabei feststellen, dass bei Fragen, deren Antworten sich «googeln» lassen, es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht um philosophische Fragen handelt. Beispielsweise lässt sich die Frage nach der «Fusionsenergie» relativ einfach durch eine Google-Anfrage beantworten. Umgekehrt findet die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz eben keine befriedigende Antwort durch das Internet, weshalb es sich um eine Frage der Philosophie handelt. Ebenso wie die Frage, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein. Auch hierüber macht sich die Wissenschaft keine Gedanken. Klar scheint somit, dass sich Wissenschaft und Philosophie fundamental unterscheiden.

In «Wissenschaft und Besinnung» schreibt Heidegger sehr prägnant: «Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen.» Und was ist wirklich? Wirklich ist das, was sich als gegeben, als anwesend herausstellt, und zwar unabhängig davon, welchen Standpunkt der Betrachter einnimmt. Es drängt sich auf. Die Wissenschaften sollen uns in Form von Theorien helfen, das Wirkliche zu sehen. Die Wissenschaft, so Heidegger in Ergänzung in «Gedankensplitter», stellt im Unterschied zur Philosophie eine Verengung in der Fragestellung dar. Die Wissenschaft fragt also nicht nach dem Ganzen, die Philosophie hingegen betrachtet die ontologische Differenz als solche, den Unterschied zwischen Sein und Seiendem: einen Unterschied, den die Wissenschaften überhaupt nicht thematisieren. Sie sind, wie Heidegger bemerkt, «seinsvergessen».

Der Satz «Wissenschaft denkt nicht» besagt folglich nicht, dass die Wissenschaftler nicht dächten. Er meint lediglich, dass die Wissenschaft eigenen Gesetzen folgt und mit ihnen funktioniert. Der Physiker kann gewiss über alles Mögliche und auch über Physik nachdenken. Aber insofern er Physik betreibt, passt er sich ein in einen Wirkungszusammenhang, der mit ihm funktioniert oder ihn gleichsam ausstösst.

Mit dem Satz «Die Wissenschaft denkt nicht» bringt Heidegger zum Ausdruck, dass die Wissenschaft zwar das Seiende analysiert, jedoch nicht über das Sein in seiner ganzen Totalität nachdenkt. Das Sein lässt sich in diesem Zusammenhang zwar als Verständnishorizont beschreiben, auf dessen Hintergrund die Untersuchungsobjekte der Wissenschaft erscheinen. Der Wissenschaft wird dieser Verständnishorizont aber selbst nicht zum Problem, sondern er bleibt unthematisch. Die Aufgabe der Philosophie sieht Heidegger gerade darin, diese Voraussetzungen zum Thema zu machen, zumal die Wissenschaft dies selbst nicht denken kann. Mit den Worten Heideggers: «Man kann nicht mit den Methoden der Physik sagen, was die Physik ist. Sondern was die Physik ist, kann ich nur denken.»

Für Heidegger heisst «Denken» «Seinsdenken» in einer doppelten Bedeutung: Zum einen denkt das Denken dem Sein nach und zum anderen «gehört» es – da sich Wahrheit vom Sein her ereignet – dem Sein. Und im Unterschied zur Philosophie gilt für die Wissenschaften: Was auch immer die Wissenschaften tun, sie vergegenständlichen die Natur, und das notwendigerweise. Die Vielfalt der Disziplinen in das Netz eines Systems der Wissenschaften einzufangen, um im System das Wesen der Wissenschaften zu begreifen, lässt Heidegger als Vorstellung nicht gelten. Also müssen wir versuchen, auf einem anderen Weg in die Nähe des Wesens der Wissenschaften zu gelangen. Wir fragen, welches ist jener unscheinbare Sachverhalt, der sich in der modernen Wissenschaft verbirgt. Anders gefragt: Was ist das Wesen oder die wahre Natur der Wirklichkeit, die die Wissenschaften nicht nur nicht einfangen können, sondern die durch die Wissenschaften geradezu aus dem Blick geraten? – Heideggers Antwort darauf: «Das Sein.»

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

“Wissenschaft denkt nicht”. Heidegger über das Schicksal des Denkens

Bild:
Abgelegener Rückzugsort:
die Berghütte des Philosophen Martin Heidegger.
Autor: Rolf Haid