Warum auch Du an «Digitaler Demenz» leidest

Der Ulmer Psychiater, Hirnforscher und Buchautor Manfred Spitzer warnt in seinem Buch «Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen». Seine Thesen: Computer machen süchtig, einsam und dumm. Mehr als drei Viertel der Europäer sind im Internet unterwegs, der Computer gehört zur Standardausstattung der meisten Haushalte, und Smartphones begleiten uns in vielen Lebenssituationen. Trotzdem wird über den Nutzen von PCs gestritten. Der Computer wird zur Droge erklärt, die Millionen in die Spielsucht treibt, das Internet zu einem Krankheitserreger, der dumm macht. Der Hirnforscher Manfred Spitzer befürchtet die allgemeine «digitale Demenz».

 

Spitzers Thesen sind ein Stakkato des Schreckens: Erstens machen Computer süchtig und einsam. Zweitens machen Computer dumm. Und deshalb – drittens – sollten Kinder vom Computer ferngehalten werden. Stattdessen empfiehlt Spitzer Fingerspiele. Dabei kann es im Jahr 2017 nicht mehr ernsthaft um die Frage gehen: Computer ja oder nein.

 

Erstens existiert die Trennung zwischen virtueller und realer Welt für viele Kinder überhaupt nicht mehr; sie leben in einer digital-analogen Realität. Wie jede neue Technologie haben auch die digitalen Innovationen Schattenseiten, etwa exzessives Spielen oder Cybermobbing. Aber das sind die Ausnahmen, nicht die Regel. Aus Umfragen ist bekannt, dass gerade einmal 3 Prozent der Jugendlichen, die älter als 14 Jahre sind, mehr als vier Stunden am Tag am Computer spielen. Das sind unzweifelhaft 3 Prozent zu viel, aber es ist eben kein Massenphänomen. Gleichzeitig machen 59 Prozent Denk- und Strategiespiele am Computer, 18 Prozent nutzen ihn zur Weiterbildung oder zum Sprachentraining. So gesehen, ist Computersucht keine Krankheit, aber für manche ein Problem.

 

Trotzdem wird die Behauptung, das Internet mache einsam und unglücklich, bei vielen Menschen auf Zustimmung stossen; denn sie spiegelt das Unbehagen zahlreicher Eltern über die Computer- und Internetnutzung ihrer Kinder wider. Kaum zurück aus der Schule, fangen sie an zu chatten. Spitzer belegt dieses Bauchgefühl mit einem Hinweis auf eine nicht näher bezeichnete amerikanische Studie, nach der Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren in den Vereinigten Staaten täglich sechs Stunden online seien, aber nur zwei Stunden reale Kontakte hätten.

 

Solche Zahlen widersprechen in einem Mass jeder persönlichen Beobachtung, dass man sich von Spitzer etwas mehr wissenschaftliche Distanz vor solchen Pseudo-Belegen hätte wünschen dürfen. Anders die methodisch saubere EXIF-Studie, wonach 96 Prozent der jugendlichen Nutzer von sozialen Netzwerken ihre Internet-Kontakte auch real kennen. Das Internet ermöglicht somit soziale Interaktion, es verhindert sie nicht.

 

Zum Zweiten gehören Computer in die Schule und ins Kinderzimmer, allerdings mit einem vernünftigen Konzept. Wer die Schüler der Sekundarstufen I und II mit Computern ausstatten will, würde die Schüler dümmer machen, klagt Spitzer. Südkorea ist sein abschreckendes Beispiel, ein Land, in dem der Begriff „digitale Demenz“ erstmals benutzt wurde und das uns in Sachen Durchdringung des Alltags mit Computern weit voraus ist. Gemäss der aktuellen Pisa-Studie liegen die südkoreanischen Schüler freilich klar vor den Europäischen, sowohl in Mathematik und Naturwissenschaften wie auch im Leseverständnis.

 

Dabei müsste gerade Deutschland in den vergangenen Jahren in allen Bildungsvergleichen Spitzenplätze einnehmen; schliesslich kam die Pisa-Studie zum Ergebnis, dass unter allen Industriestaaten der Computer beim sogenannten «Exportweltmeiste» am seltensten als Lerninstrument eingesetzt wird. Richtig ist somit, dass Computer per se weder dumm noch schlau machen, genauso wenig wie Fernseher, Zeitungen oder Bücher. Auch Literatur kann verdummen, und nicht jede Zeitschrift macht ihre Leser klüger. Es kommt auf den Inhalt und die Nutzung an so wie beim Computer auch.

 

In der Schule muss deshalb Medienkompetenz vermittelt werden. Schon wer einen Ausbildungsplatz sucht, wird es ohne solche Kenntnisse schwer haben. Was heisst das praktisch? Es geht eben nicht darum, den Jugendlichen das „Googeln“ als vermeintlich schnelle und einfache Alternative zum Nachschlagen im Lexikon beizubringen, sondern ihnen die Funktionsweise einer Suchmaschine zu erklären. Spitzer bezweifelt, dass Medienkompetenz überhaupt zu irgendetwas gut ist. Wer dem folgt, wird die Schüler dumm halten, und damit genau jene Entwicklung erzeugen, die er so lautstark kritisiert.

 

Drittens wird die Welt komplexer. Computer helfen, sie zu verstehen. Die Vorstellung, man könne Jugendliche von Computern fernhalten, zeugt von erstaunlicher Ignoranz. Es geht nicht mehr um den Heimcomputer, der irgendwo im Arbeitszimmer steht. Heute besitzen die meisten im Schnitt zwei bis drei Computer: PC, Laptop, Spielkonsole, Smart- oder iPhone. Jedes Gerät hat ein Vielfaches der Rechenleistung der Computer von 1984 und meist einen mobilen Internetzugang. Elektronische Bücher werden auf E-Readern gelesen, Fotos entstehen digital und werden ins Netz geschickt. Immer mehr Grosseltern machen Bildtelefonie via Skype, um den Nachwuchs auch zwischen Geburtstag und Weihnachten häufiger zu sehen. Der Fernseher ist mit dem Internet verbunden. (Über den hat Spitzer vor sieben Jahren ähnlich geurteilt wie heute über PCs. Den Fernseher hat er damit nicht abgeschafft, und auch PCs werden mit der aktuellen Diskussion nicht verschwinden.)

 

Ob es einem nun gefällt oder nicht: Computer sind mit der Welt des 21. Jahrhunderts untrennbar verbunden und werden es auf absehbare Zeit bleiben. Analoge Ignoranz ist auch nicht besser als digitale Demenz.

 

Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Notebooks oder Navis erledigt. Das birgt zwar Gefahren, doch darüber setzt sich die Allgemeinheit hinweg. Egal, ob digitale Medien süchtig machen oder nicht, egal, ob sie langfristig Körper und Geist schaden, weil wir unsere Hirnarbeit auslagern, so dass das Gedächtnis nachlässt und Nervenzellen absterben. Egal, ob nachwachsende Zellen selten überleben, weil sie nicht gebraucht werden, egal, ob bei Kindern und Jugendlichen durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert wird und als Folge Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen sowie Depressionen und Gewaltbereitschaft zunehmen, egal, wie besorgniserregend die Entwicklung und das Tempo digitaler Medien sind, aus dieser unserer Welt schaffen lassen sie sich nicht.

 

Spitzers Thesen zeigen auf, wie in den letzten Jahren Menschen und Gesellschaft durch den Umgang mit den digitalen Medien und dem Internet sich verändert und verformt haben. Er beschreibt die Entstehung einer, wie er es nennt, modernen «Zivilisationskrankheit» und ihre verschiedenen Facetten. Zweifellos richtig spricht Spitzer wichtige Themen an, allerdings ist seine polemische Diktion seinem Anliegen kaum förderlich. Ausserdem ist der Begriff der «digitalen Demenz» verfehlt. Unter Demenz versteht die Medizin einen Verlust ursprünglich verfügbarer kognitiver Fertigkeiten – ein Verlust des Gedächtnisses, eine Einschränkung des Denkvermögens, Orientierungsstörungen und letztendlich einen Zerfall der Persönlichkeitsstruktur. Eine Demenz kann viele Ursachen haben. Ein Beispiel sind Hirnschäden infolge von Durchblutungsstörungen. Gemeinsamer Nenner der Ursachen sind Veränderungen der Struktur und der physiologischen Prozesse im Gehirn, so dass sie weit vom Normalen abweichen. Was immer die Nutzung digitaler Medien im Gehirn verursachen mag – es gibt keinerlei Evidenz dafür, dass sie zu fassbaren, krankhaften Veränderungen im Gehirn führt. Die Wirkung der digitalen Medien ist zweifelsohne eine komplexe Resultierende aus einer Vielzahl von Prozessen im Gehirn, die für sich Gegenstand der Psychologie und der Neurowissenschaften sind. Doch diese Disziplinen arbeiten zwangsläufig mit stark vereinfachten Modellen, wenn sie die prinzipiellen Mechanismen aufklären wollen. Zu glauben, wir könnten aus einzelnen Erkenntnissen und einem diffusen Unbehagen bereits die Wirkung digitaler Medien auf das komplexe System Gehirn wissenschaftlich ableiten, ist schlicht naiver Reduktionismus.

 

Christoph Frei

Akademisches Lektorat