#HERMENEUTIK: DIE KUNST, DAS VERSTEHEN ZU VERSTEHEN

Der Zirkelschluss, Zirkelbeweis, logische Zirkel oder auch Hysteron-Proteron (aus dem Altgriechischen ὕστερον πρότερον [hýsteron próteron], wörtlich etwa «das Spätere [ist] das Frühere»), ist ein Beweisfehler, bei dem die Voraussetzungen das zu Beweisende schon enthalten. Es wird also behauptet, eine Aussage durch Deduktion zu beweisen, indem die Aussage selbst als Voraussetzung verwendet wird. Der Zirkelschluss wird auch als Circulus vitiosus oder als Teufelskreis bezeichnet und sollte nicht mit dem Pleonasmus, einer Kombination gleichbedeutender Wörter wie «weisser Schimmel», verwechselt werden.

Ein zirkulärer Fehlschluss verbirgt sich oft geschickt im Text. Weil Argumentationen häufig länger sind und mehrere Absätze in Beschlag nehmen, verstecken sich die Prämissen manchmal. Daher ist ein Zirkelschluss mitunter schwer zu erkennen. Im Prinzip ist dieser Fehlschluss offensichtlich: Wenn die Ableitung oder der Schluss, also die Konklusion, bereits in einer Prämisse enthalten ist, dann handelt es sich um einen Zirkelschluss.

«Die Bibel ist Gottes Wort, weil geschrieben steht, dass alle Schrift von Gott gegeben sei.»

Die Prämisse (alle Schrift sei von Gott gegeben) enthält bereits die Konklusion (die Bibel ist Gottes Wort). Man kann daran glauben, aber auf diesem Weg ist es nicht zu beweisen.

Molière verspottete in einer seiner Komödien treffend diese Art von logischen Fehlern: Der Vater einer stummen Tochter möchte wissen, warum seine Tochter stumm ist. «Nichts einfacher als das», antwortet der Arzt, «das hängt vom verlorenen Sprachvermögen ab.» «Natürlich, natürlich», entgegnet der Vater, «aber sagen Sie mir bitte, aus welchem Grunde hat sie das Sprachvermögen verloren?» Darauf der Arzt: «Alle unsere besten Autoren sagen uns, dass das vom Unvermögen abhängt, die Sprache zu beherrschen.» Mit andern Worten ist das Argument des Arztes ein Zirkelschluss, weil die Ableitung oder der Schluss, also die Konklusion, bereits in der Prämisse enthalten ist: «Die Tochter hat das Sprachvermögen verloren, weil die Tochter das Sprachvermögen verloren hat.» Damit verbunden ist ein grundsätzliches Problem des «formalen Fehlschlusses». Die seit der griechischen Antike bekannte Grundregel des Verstehens lautet bekanntlich wie folgt: Da von den Teilen auf das Ganze geschlossen werden kann, muss das Ganze aus dem Einzelnen verstanden werden. Dafür ist es aber auch nötig, das Einzelne als Teil des Ganzen und aus ihm heraus zu verstehen. Dieses Prinzip nennt man hermeneutischen Zirkel, das durch seine Kreisbewegung etwas paradox erscheint; denn das, was verstanden werden soll, muss schon vorher irgendwie verstanden worden sein. Dieses zirkuläre Grundproblem taucht innerhalb der verschiedenen historischen Ausprägungen der Hermeneutik in abgewandelter Form immer wieder auf. Vor allem nach dem Verstehensgrundsatz vom Ganzen und Teil stellt sich hierbei ein Problem. Wenn der Teil nur im Hinblick auf das Ganze, das Ganze nur im Hinblick auf den Teil zu verstehen ist, erweist sich eine so verfahrende Hermeneutik als zirkulär. Verstehen im hermeneutischen Sinn wäre dann nicht geradlinig, sondern zirkelförmig!

Hans-Georg Gadamer hat den Zirkel des Verstehens mit einem neuen Bild ergänzt: dem Horizont. Als Grundbedingung gilt Gadamer das Beherrschen einer Sprache. Innerhalb dieser bilden sich Vorurteile oder ein Vorverständnis, die das zu Verstehende in gewisser Weise vorwegnehmen. Sie sind dafür verantwortlich, welche Fragen wir stellen, in welcher Hinsicht wir an einen Text herantreten. Bei der Auseinandersetzung mit dem Text, kann das Vorwissen verändert und weiterentwickelt werden. Wichtig dabei ist, die Bereitschaft die eigenen Vorurteile bzw. das eigene Vorverständnis erkennen zu wollen, der neuen Erkenntnis gegenüber offen und empfänglich zu bleiben, dem Text also auch wirklich zuzuhören. Aus diesem Verstehensprozess kommt man allenfalls mit einem gereiften Vorverständnis heraus. Freilich ist man nie fertig mit dem Verstehen; schliesslich sind wir alle Kinder unserer Zeit, eingebettet in unsere Wirkungsgeschichte. Einzusehen, dass wir geschichtliche Wesen sind, bedeutet somit einzusehen, dass unser eigenes Blickfeld begrenzt ist. Der menschliche Horizont vermag nur das zu umfassen, was von seinem eigenen Standpunkt aus zu erkennen ist. Über Gespräche lässt sich der Horizont erweitern, das heisst im Sinne Gadamers, es kommt zu einer «Horizontverschmelzung.»

Trotzdem stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, den Sinn aus einer anderen Zeit zu erkennen. Oder anders gefragt: Gibt es getrennte Horizonte, einen gegenwärtigen, in dem sich der Verstehende befindet, und einen historischen, in dem es gilt, die Überlieferung zu betrachten? Nach Gadamer ist das nicht der Fall: «Wie der Einzelne nie Einzelner ist, weil er sich immer schon mit anderen versteht, so ist auch der geschlossene Horizont, der eine Kultur einschliessen soll, eine Abstraktion.»

Letztlich gibt es nur einen Horizont, der alles, was das geschichtliche Bewusstsein enthält, umschliesst, und dies ist der Horizont der Wirkungsgeschichte. (Der Begriff der Wirkungsgeschichte wurde von Hans-Georg Gadamer als eine tragende Kategorie des Hermeneutik-Konzepts eingeführt. Jeder Lektüre oder Interpretation gehen andere Lektüren und Interpretationen voraus, die ihrerseits historisch gebunden sind. Verstehen ist damit ein Verschmelzen von vermeintlich für sich seienden Horizonten.) Der hermeneutische Zirkel ist damit kein unendlicher Regress, sondern beschreibt die Wesensart von uns Menschen. So lange wir sind, führen wir ein Gespräch, das nicht endet.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Link:

Hans-Georg Gadamer – «Man muss immer damit rechnen, dass der andere recht haben könnte.»