IST DER GROSCHEN GEFALLEN?

Für einmal ein etwas umwegiger Einstieg: Nachdem die Covid-19-Krise zunächst Deflationsängste geschürt hatte, hat die geldpolitische Liquiditätsflut zu höheren Inflationserwartungen geführt. Vor diesem Hintergrund überlegen sich viele, wie sie ihr Geld für das postpandemische Wirtschaftsumfeld anlegen sollen oder wie es um ihre Pension bestellt ist. Anders gefragt, möchten sie wissen, ob wir in inflationären oder deflationären Zeiten leben? (Ob Du vermögend bist oder nicht, spielt hierbei keine Rolle.) – Nach Jeff Booth, dem Autor von «The Price of Tomorrow», leben wir in einer Welt, die inflationär und zugleich deflationär ist. Zum einen kriegen wir für immer mehr Geld immer weniger (z.B. Wohnraum), und zum andern kriegen wir für immer weniger (Geld) immer mehr (z.B. über ein Handy Karten, Musik, Filme, Bücher etc.). Ganz zu schweigen von Internetdienstleistern wie FACEBOOK, INSTAGRAM, GOOGLE oder SNAPCHAT, die alle gratis sind. (Mithin lässt sich die Frage, ob wir nun in inflationären Zeiten leben oder nicht, auch nicht eindeutig beantworten, denn im Grunde ist beides richtig.)

Klar ist allerdings, dass FACEBOOK als Internetdienstleister mit stark deflationärer Tendenz die Seitenbetreiber auffordert, Sofortantworten zu generieren, die für eine grössere Zahl möglicher Fragen von Besucherinnen und Besuchern zutreffen könnten. (Wer wird schon erwarten, dass jede Frage individuell beantwortet wird, das wäre schlicht nur inflationär.)

Gesetzt den Fall also, jemand versucht über FACEBOOK auf seine Lektorats-Dienste aufmerksam zu machen, so könnte eine Sofortantwort wie bei mir auf noch nicht bekannte Fragen folgendermassen aussehen:

«Wenn Du ein Coaching im Unterrichtsfach Deutsch brauchst, so rufst Du mich am besten unter 044′ 383′ 10′ 94 an oder schickst mir eine kurze E-Mail an starketexte@bluewin.ch. Selbstverständlich hast Du das Recht auf eine erste kostenlose Probelektion.»

Um nicht unentwegt missverstanden zu werden, habe ich später meine Sofortantwort durch folgenden Satz ergänzt:

«Es handelt sich hierbei um eine automatisch generierte Wenn-Dann-Formulierung, die sich naturgemäss an niemanden persönlich richtet.»

Trotzdem erreichen mich unentwegt Postings wie die folgenden:

«Hallo,
kennen wir uns persönlich? Habe eine Zeit lang in Zürich gelebt und gearbeitet. Allerdings bin ich Ihnen, glaube ich, nie begegnet. Weder habe ich von Ihrer Arbeit gehört. Vielleicht können Sie mir auf die Sprünge helfen? «

Oder so, fast schon schulbuchmässig, wie hier:

«Wie kommen Sie darauf, dass ich ein Coaching bräuchte? Meine Frage war eher, ob ich Sie persönlich kenne? Besten Dank für die Beantwortung. Mit freundlichen Grüßen»

Offensichtlich ist in diesem Zusammenhang der Groschen noch nicht bei allen gefallen. Vielen scheint nicht bewusst zu sein, dass im Internet die Kommunikation über Bots erfolgt. Bots sind Computerprogramme, die eigenständig und automatisiert agieren und in ihrer Funktion nicht auf die Mitwirkung oder Überwachung durch Menschen angewiesen sind. Also so eine Art KI.

Zu den Funktionen von Bots gehören unter anderem die Unterstützung von Kommunikationshilfen auf Instant-Messaging-Diensten wie z.B. FACEBOOK, INSTAGRAM oder TWITTER. Etwas komplizierter sind automatisierte Übersetzungen, personalisierte Werbung oder das Anbieten und Ausführen von Bestellungen wie bei AMAZON. Klar dürfte dabei sein, warum sie die stark deflationären Tendenzen der Digitalisierung begünstigen. Arbeit wird billiger, das heisst, der Konsument kriegt mehr für weniger zum Preis einer sich beschleunigenden Arbeitslosenquote. Da alles, was sich digitalisieren lässt, diesem Paradigmenwechsel unterworfen ist, reimt sich auch, was vor über 100 Jahren der französische Maler Paul Cézanne in einem Brief seinem Sohn schrieb: «Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.» Es macht also keinen Sinn, auf schöne neue Bücher zu warten, auf fetzige Musik in einer Jukebox, neue Postämter oder Bankfilialen, auf Briefmarken oder Postkarten, ja selbst der gute Tante-Emma-Laden wird verschwinden wie die gepflegte Handschrift und der schwarze Montblanc-Füller mit Goldfeder, ja auch der traditionelle Schulunterricht wird ersetzt oder doch erweitert durch kostenpflichtige Dienstleister wie «sofatutor» oder «Schlaufux» mit standardisierten Erklärvideos, Zusammenfassungen und Übungen für «alle Mathe-, Deutsch- und Französischthemen. Schlaufux passt das Lernmaterial exakt an die kantonalen Lehrpläne an», heisst es auf der Homepage. «So kann man genau das lernen, was in der Schule wichtig ist. Die Lernplattform ist eine ideale Ergänzung zum obligatorischen Schulunterricht.» Warum nicht? Wenn sie gut gemacht ist. Schliesslich sind nicht alle Lehrpersonen geborene Didaktiker und Pädagogen.

Daher verkennt der Kommentator der Wochenzeitschrift DIE ZEIT die Verhältnisse, wenn er unter einen Artikel mit dem Titel «Ein Bot als Gedankenmüllhalde» schreibt: «DIE ZEIT, in ihrer derzeitigen ‚Verjüngungsoffensive’ lässt nichts aus, was junge Leser wollen und nervt mit Lifestyle-Boulevardkram.» Schön wär ’s ja, denkt sich jetzt vielleicht so mancher, wenn er sich mit einem diffusen Unbehagen mögliche Auswirkungen digitaler Medien auf das menschliche Gehirn ausmalt. Trotzdem wird vieles, das uns lieb geworden ist, im grossen schwarzen Loch der Digitalisierung verschwinden.

COVID-19 and The Acceleration of Secular Deflation (w/ Raoul Pal & Jeff Booth)

Bild:
Österreich 1 Groschen, 1925-1938

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich