LITERATUR ALS DENKSCHULE

FRANZ KAFKAS: DER STEUERMANN
»Bin ich nicht Steuermann?« rief ich. »Du?« fragte ein dunkler hoch gewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseiteschieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriss. Da aber fasste es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: »Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!« Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. »Bin ich der Steuermann?« fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und als er befehlend sagte: »Stört mich nicht«, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?

TEXTANALYSE

Der Steuermann ist eine kurze Erzählung von Franz Kafka, in der ein Ich-Erzähler als Steuermann eines Schiffes von einem Eindringling gewaltsam verdrängt wird, ohne dass ihm die Mannschaft des Schiffes bei der Wiedererlangung seiner alten Position geholfen hätte. Hartmut Binder hat in seinem Kafka-Handbuch den Inhalt des narrativen Kurztextes, im Grunde eine Parabel, in einem Satz zusammengefasst: «Das Mitte November 1920 verfasste Kurzdrama spielt sich zwischen dem Ich, dessen Widerpart und einer amorphen, mit dem Ich sympathisierenden, aber nicht rettend eingreifenden Masse ab.»

Der erste Satz des mit «Der Steuermann» überschriebenen Prosastückes lautet: «Bin ich nicht Steuermann? rief ich.» Mit dieser rhetorischen Frage betritt die eine der beiden erzählten Figuren den Schauplatz des erzählten Geschehens und stellt sich als Hauptperson der Handlung vor. An der Inquit-Formel «rief ich» ist zu erkennen, dass Kafka nicht die Erzählform der epischen Fiktion gewählt hat, bei welcher der Erzähler nicht von sich selbst, sondern von einer anderen Person berichtet, die in der 3. Person Singular als ER auftritt. Kafka bedient sich hier also der Ich-Erzählform: der Erzähler berichtet von sich selbst, das ICH kann sowohl erzählendes Medium als auch handelnde Figur sein. Der in der Ich-Form auftretende Steuermann ist der Ich-Erzähler, das Narrator-Ich ist somit Erzähler und Handelnder in einer Person. Wie in vielen Erzählungen Kafkas liegt auch im Steuermann ein personales Erzählverhalten vor. Ein personaler Erzähler ist auf die Figur beschränkt, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird. Demzufolge kann er nicht wissen, was andere Figuren denken oder fühlen. Infolge des Fehlens eines auktorialen Erzählers wird das Geschehen auf den Schiffsplanken nur durch die beiden erzählten Figuren des Steuermanns und des Fremden dargestellt. Bei der im Text vorliegenden Erzählweise gibt es daher keine Innensicht. Dadurch kann der in der Ich-Form erzählende Steuermann nicht in das Innere des Fremden hineinblicken, er weiss nichts von dessen Gedanken oder Gefühlen. Er erlebt nur, dass sich der Fremde des Steuerrades bemächtigt, das Steuermann-Ich erfährt aber nicht den Grund. Der Steuermann, der «am Steuer gestanden [war] in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über [seinem] Kopf», ist allein an Deck gewesen und hat am Steuer gewacht. Plötzlich jedoch «war dieser Mann gekommen» (Plusquamperfekt!), er ist auf einmal als zweite erzählte Figur da, unversehens ist er aus dem Dunkel der Nacht aufgetaucht. Auch bleibt im Dunkeln, wer dieser Fremde ist, er ist kein Mannschaftsmitglied und auch kein Passagier. Der Ich-Erzähler nimmt ihn aufgrund der Dunkelheit nur schemenhaft wahr, er sieht bloss, dass er «sich mit der Hand über die Augen [strich], als verscheuche er einen Traum.» Für den Leser bleibt der Vergleichssatz (als ob «er einen Traum [verscheuche]») unverständlich. Der Ich-Erzähler hat aber keine Zeit, darüber nachzudenken, was es mit dem Traum auf sich hat, denn er wird unmittelbar nach seiner eigenen, sein Selbstgefühl bestätigenden Frage konfrontiert mit einem kurzen «Du?» des Fremden. Dessen Einwortsatz stellt so überraschend die Autorität des Steuermann-Ichs in Frage. Das Fragezeichen hinter dem Personalpronomen «du» kennzeichnet hier nicht, wie im ersten Fall, eine rhetorische, sondern eine echte Frage. Würde der nur aus einem Wort bestehende Kurz- in einen Mehrwortsatz erweitert, müsste dieser wohl lauten: «Du bist nicht mehr Steuermann!»

Diese verbale Verneinung seiner Sinnberechtigung erfährt der Steuermann sogleich auch handgreiflich: der Unbekannte will ihn «beiseiteschieben». Weil der Angegriffene sich widersetzt, setzt der Ankömmling ihm, ohne ein Wort zu sagen, «den Fuß auf die Brust» und tritt ihn «langsam nieder.» In dem Moment, in welchem das Schiff Gefahr läuft, führerlos dahinzutreiben, greift der Fremde ein, er fasst das Steuerrad und bringt es «in Ordnung». Indem er das Steuer übernimmt, bringt er das Schiff wieder auf Kurs. Dessen ungeachtet läuft das alte Steuermann-Ich zur Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: «Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell!» Seine gewaltsam erfolgte Ablösung kennzeichnet er zutreffend mit dem emphatischen Ausruf «Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!“ Seiner Aufforderung wird Folge geleistet, die Matrosen kommen an Deck. Aber was sieht der Ich-Erzähler? Sie stürmen nicht nach oben, sondern «langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe». Dass sie keine Eile haben, wird verstärkt durch die Apposition «schwankende müde mächtige Gestalten». Die drei asyndetisch gereihten Adjektive stehen ohne Kommata, die beiden ersten passen als Beschreibung zu der adverbialen Bestimmung «langsam». Auffallend ist hingegen das «mächtige». Dieses Adjektivattribut dürfte dem Wunschdenken des Steuermanns entsprechen, nämlich seinem Dafürhalten, sie könnten und müssten kraft ihrer Anzahl in der Lage sein, den Fremden zu überwältigen und ihm wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Im Glauben darauf stellt der Ich-Erzähler eine zweite Frage: «Bin ich der Steuermann?» Die Reaktion der Mannschaft besteht in einem Nicken, das aber zwiespältig ist. Zwar geben die Leute ihrem Steuermann, wortlos zustimmend, darin recht, er sei wohl Steuermann, «aber Blicke hatten sie nur für den Fremden.» – Auf den Abbruch des erzählten Geschehens folgen jedoch noch zwei letzte seltsame Sätze: «Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?» Klingt der erste Satz wie eine Frage, legt der zweite Satz eine gehörige Portion Verachtung der so Beurteilten in seine Worte. Der Sprecher bezweifelt die Denkfähigkeit der «sie» und hält ihr Erdendasein für sinnlos.

Damit endet Kafkas Parabel symbolisch mit der Frage nach der Bedeutung der Existenz dieser Menschen. Anders ausgedrückt, kann man auch zum Schluss kommen, dass Kafkas Parabel «Der Steuermann» sein eigenes Defizit, Glück für seine Existenz zu empfinden, widerspiegelt. Vor allem entwickelte er sich unter seinem herrschsüchtigen und pseudomoralischen Vater, wie er ihn selbst nannte, zu einem ängstlichen und wankelmütigen Erwachsenen.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Franz Kafka, Der Fechter
aus: Franz Kafka, Die Zeichnungen
Hrsg. von Andreas Kilcher, Verlag C.H.Beck oHG, München, 2021