LITERATUR ALS DENKSCHULE

FRANZ KAFKA: DER PLÖTZLICHE SPATZIERGANG

Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man auch jetzt schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen langläuft, – dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.

TEXTANALYSE
Kafkas kurzer Prosatext «Der plötzliche Spaziergang», erschienen im damals jungen Rowohlt-Verlag Ende 1912 im Rahmen des Sammelbandes «Betrachtungen», handelt von einem tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Akt der Selbstbefreiung. Der kleine Sammelband trägt die Widmung Kafkas «Für M. B.», also für den Freund Max Brod. Bereits 1908 waren acht der Prosastücke mit dem Obertitel «Betrachtung» in der Zeitschrift Hyperion, herausgegeben von Franz Blei, veröffentlicht worden. Aus der unpersönlichen «Man»-Perspektive des fiktiven Erzählers (oder der Erzählfunktion) wird weniger eine Erzählung als vielmehr eine Betrachtung oder Überlegung durchgespielt. Zum einen handelt der Text vom realen Ablauf eines Abends: Der fiktive Erzähler entfernt sich abrupt aus dem Kreis seiner Familie, obwohl sein Weggehen befremdlich wirken mag. Denn alles war schon auf das abendliche Zu-Hause-Verweilen ausgerichtet, als der Erzähler «ein plötzliches Unbehagen» empfindet. Er reisst sich los und geht in die nächtliche Stadt. Auf der Gasse fühlt er sich gestärkt von seinem Entschluss. Die Familie «schwenkt ins Wesenlose», während er selbst sich zu seiner «wahren Gestalt erhebt». Verstärkt wird dieses Gefühl dadurch, dass er nun einen Freund aufsucht. Auf der anderen Seite bauen sich Bedingungen wie ein Gebirge vor dem Erzähler auf, so dass wohl nur ein Traum vom Ausbruch aus der Routine des Alltags bleibt. Denn jedes zusätzliche «Wenn» in der scheinbar endlosen Kette verringert die Eintrittswahrscheinlichkeit des bedingt Möglichen. Ausserdem führt das ganze – so es denn überhaupt real stattfindet – nur zu einem Besuch bei einem Freund an einem Abend und nicht zu einer wirklichen Loslösung von der Familie.

Genauer besteht im Hinblick auf Sprachstil und Form die Prosaskizze aus zwei sehr unterschiedlich langen Sätzen. Der erste Satz nimmt eine gesamte Textseite in Anspruch. Er beginnt mit neun aufeinanderfolgenden Konditionalhalbsätzen («wenn […], wenn […], wenn […], wenn […] und wenn […]»), die mehr als die Hälfte der «Erzählzeit» einnehmen, bevor endlich das «erlösende» oder lang erwartete «dann» fällt. Der zweite Satz beginnt mit einer Inversion («Verstärkt wird…»), die das aufkommende Gefühl der Befreiung durch einen vernünftigen Zweck verstärkt.

Durch die unpersönliche und verallgemeinernde «Man»-Perspektive wird der Leser einbezogen und aufgefordert, diese innerliche Probehandlung für sich selbst durchzuspielen. Der Leser ist durch das eingemeindende «man» in einer widersprüchlichen Situation, denn da ist gleichzeitig Miterleben von Emanzipation und Übertragung dieses Befreiungsaktes auf sich selbst.

Das Erzählverhalten lässt sich gleichwohl eindeutig bestimmen. Da es keinen «allwissenden» oder «auktorialen» Erzähler gibt, der die erzählte Welt betritt, sich also als Aussagesubjekt ins Spiel bringt und mit einem Kommentar eingreift oder, metaphorisch gesprochen, der erzählten Welt einen Besuch abstattet, liegt ein personales Erzählverhalten vor. Der fiktive Erzähler tritt hinter die Figuren zurück (oder erzeugt sie als «Erzählfunktion») und sieht die erzählte Welt mit deren Augen. Die erzählte Wirklichkeit besteht somit aus erzählter Zeit, erzähltem Ort, erzähltem Geschehen und erzählten Figuren. Die Dauer des fiktiven Geschehens wird in der ersten und der letzten Zeile genannt: am «Abend» und «späte[n] Abendzeit». Die erzählte Figur des «man» sagt aber nur wenig über ihr Zuhause, sie erwähnt ein Zimmer, das verlassen wird, ein Treppenhaus mit Haustor, findet sich später auf der Gasse wieder und spricht dann, hypothetisch, von «langen Gassen». – Aufschlussreich ist dabei, wie das «man» als erzählte Figur der erzählten Wirklichkeit spricht. Die Figurenrede ist keine gesprochene, sondern eine stumme Rede im Indikativ Präsens. Da von den Möglichkeiten der nicht gesprochenen die erlebte Rede und Psychonarration an das Präteritum gebunden sind, bleibt eigentlich nur der innere Monolog übrig. Der ist definiert als die Gedankenwiedergabe einer wachen, nicht schlafenden oder träumenden Erzählfigur. Allerdings verlangt die Regel für den inneren Monolog, strenggenommen, die 1. Pers. Ind. Präs.

Freilich könnte man mit Gerd Berner in «Franz Kafka, Der plötzliche Spaziergang – Versuch einer Interpretation» zum Ergebnis gelangen, die erzählte Figur führe einen sich über alle Zeilen erstreckenden Monolog. Die dabei nicht ausgesprochenen Gedanken entwickeln sich in drei Phasen. Zunächst scheint der Abend zu Hause in gewohnten Bahnen mit eingeübten Beschäftigungen zu verlaufen. Allerdings findet der Protagonist, er habe schon so lange bei Tische «stillgehalten», dass er ein plötzliches «Unbehagen» angesichts des gewohnheitsgemässen Verlaufes empfindet. In der zweiten Phase steht die erzählte Figur plötzlich auf, legt den Schlafrock ab und erklärt, «straßenmäßig angezogen», «weggehen zu müssen.» Allerdings sagt der Text nichts über das das «Unbehagen» auslösende Moment, ebenso wenig ist die zwingende Notwendigkeit des «müssen» erklärt. Jedenfalls fällt der «Abschied» kurz aus, und die schnell zugeschlagene «Wohnungstür» schneidet das erwartete Gespräch über das Fortgehen ab, vielleicht weil der Protagonist ahnt, dass er «Ärger … hinterlassen» hat. Der Schluss verlagert den erzählten Ort auf die «Gasse», hier enthüllen die nächsten Zeilen etwas Unerwartetes: Die erzählte Figur fühlt eine «Freiheit» mit ungeahnter Belebung seiner «Glieder». Neben dieser mehr körperlichen Beflügelung hat sich auch sein Geist aufgeschwungen: Er spürt «alle Entschlussfähigkeit in sich gesammelt» und ist von der Erkenntnis durchdrungen, dass weniger ein «Bedürfnis», sondern vielmehr seine eigene Entschlusskraft diese «Freiheit» bewirkt hat.

Auch wenn es sich bei Kafkas «Plötzlichem Spaziergang» um keine Parabel im klassischen Sinn handelt, man sich also auch nicht nach einem «Tertium comparationis» zu fragen hat, kreisen die Gedanken des erzählenden Bewusstseins um die Befreiung des Ichs, um das Heraustreten aus den «Familienfesseln», damit es unter Erringung einer selbst gewählten sozialen Rolle seinen eigenen Weg gehen kann.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Franz Kafka, [From] two pages with several drawings (ca. 1901-07). The Literary Estate of Max Brod, National Library of Israel, Jerusalem. Photos: Ardon Bar Hama.