LUDWIG WITTGENSTEINS KÄFER IN DER SCHACHTEL

Der österreichische Philosoph und Logiker Ludwig Wittgenstein gilt als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit seinen Texten lieferte er wichtige Beiträge zur Philosophie der Logik, der Sprache und des Bewusstseins. Seine beiden Hauptwerke die «Logisch-philosophischen Abhandlungen» der («Tractatus logico-philosophicus», erschienen 1921) sowie die «Philosophischen Untersuchungen», postum erschienen 1953, wurden zu zentralen Bezugspunkten zweier philosophischer Schulen: des «Logischen Positivismus» sowie der « Analytischen Sprachphilosophie». Die «Philosophischen Untersuchungen» gelten als Ludwig Wittgensteins zweites Hauptwerk. Der Text formuliert die Grundgedanken der Philosophie der normalen Sprache. Sie übten einen ausserordentlichen Einfluss auf die Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus; unter anderem auf die Sprechakttheorie bei John Langshaw Austin und John Rogers Searle. Beide entwickeln die hier veröffentlichten Ideen weiter. Wittgensteins Untersuchungen richten sich gegen die Philosophie der idealen Sprache, die neben Bertrand Russell und Rudolf Carnap vor allem Wittgenstein selbst noch in seinem ersten Hauptwerk, dem »Tractatus logico-philosophicus», vertreten hat. Die Erörterungen sind in den Jahren 1936 bis 1946 entstanden, wurde aber erst 1953, zwei Jahre nach dem Tod des Autors, veröffentlicht. Im Gegensatz zu dem streng systematischen Aufbau des Tractatus sind die «Philosophischen Untersuchungen» eine mehr oder minder lose Sammlung von Aphorismen und Notizen. Nach Wittgensteins Aussage hat er mehrmals versucht, seine Ergebnisse zu einem Ganzen zusammenzuschweissen, bis er einsehen musste, dass ihm dies nie gelingen würde (Vorwort). Nichtsdestotrotz lassen sich eine Reihe von Thesen zu unterschiedlichen Themenkomplexen identifizieren, von denen eine im Folgenden vorgestellt werden soll.

Neben der «Gebrauchstheorie der Bedeutung», dem «Sprachspiel als Lebensform» sowie der «therapeutischen Funktion der Philosophie» interessiert sich Wittgenstein in den «Philosophischen Untersuchungen» vor allem für die Frage der «Privatsprache». Seine Privatsprachen-Argumentation ist eine in der Sprachphilosophie berühmt gewordene Darlegung, warum es einem Menschen nicht möglich ist, eine Sprache zu erfinden, die prinzipiell kein anderer ausser der Sprecher selbst verstehen kann. Seine Erklärung zeigt, dass nicht nur unsere wirklichen, in der Welt existierenden Sprachen soziale Institutionen sind, sondern dass dies prinzipiell so sein muss. Im Kern liefert Wittgenstein hierfür drei Belege. Zum einen setzt er sich unmittelbar vor dem Privatsprachenargument mit dem Begriff der Regel auseinander und macht klar, dass Regeln etwas sind, das in der Gesellschaft existiert. Es handelt sich dabei um eine soziale Übereinkunft. Sprache wiederum ist regelgeleitet, weshalb sie ebenso öffentlich und sozial ist.

Sein Hauptargument ist aber ein erkenntnistheoretisches oder epistemologisches: Im Falle einer Privatsprache, also einer Sprache, die nur der Sprecher sprechen und verstehen kann, fallen «wissen» und «zu wissen glauben» zusammen. Wenn das jedoch der Fall ist, kann nicht mehr die Rede von Wissen sein. Das liegt daran, dass Wissen eine wahre, begründete Meinung ist. Eine blosse Meinung ist «zu wissen glauben». Aber wie mache ich aus einer Meinung Wissen? Ich muss entweder andere fragen, die mir meine Meinung bestätigen, oder meine Meinung irgendwie in der Welt verifizieren, etwa mit einer empirischen Studie. Ersteres scheidet bei der Privatsprache aus, schliesslich soll prinzipiell nur ich sie verstehen, also kann ich mich auch mit niemandem darüber unterhalten. Doch auch die Verifizierung muss ausscheiden, denn sobald ich mit meiner Sprache auf etwas in der Welt verweise, ist sie wieder (angefangen mit der Zeigegeste) für jemand anderen lernbar. – Das Privatsprachenargument bezieht sich vor allem auf das Sprechen über Gefühle. Jeder von uns nimmt seine Gefühle wahr, aber können sie auch mitgeteilt und von anderen verstanden werden? Gibt es überhaupt so etwas wie die Privatsprache? Was Sprache wirklich ist und was Wittgensteins Käfer in der Schachtel damit zu tun hat, zeigt sich im nachfolgenden Gedankenexperiment «Käfer in der Schachtel» aus den «Philosophischen Untersuchungen»:

«Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort »Schmerz« bedeutet, – muß ich das nicht auch von den Andern sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern?
Nun, ein Jeder sagt es mir von sich, er wisse nur von sich selbst, was Schmerzen seien! – Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir »Käfer« nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort »Käfer« dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ›gekürzt werden‹; es hebt sich weg, was immer es ist.
Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von ›Gegenstand und Bezeichnung‹ konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus» (PU 293).

Zum Schluss bringt Wittgenstein noch als drittes Argument den Spracherwerb ins Spiel. Der Erwerb der Sprache durch ein Kind ist von Beginn an eine streng öffentliche Angelegenheit. Kinder lernen ihre Muttersprache in einem sozialen Kontext. Und selbst Wörter, die auf innere Zustände wie Schmerzen verweisen, müssen erst einmal in einem gemeinsamen Sprachspiel gelernt werden.

Mit dem «Käferbeispiel» versucht Wittgenstein die Frage zu klären, was es denn überhaupt heisst, eine private Empfindung zu haben. «Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort »Schmerz« bedeutet, – muß ich das nicht auch von den Andern sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern? Die Antwort hierzu findet sich im eben ausgeführten «Käferbeispiel». Und damit lasse ich Euch jetzt mit all Euren Käfern im Kopf allein und hoffe, dass Ihr der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen könnt.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Bunter Kirschbaumprachtkäfer (Anthaxia candens)