Sagt man nun «der» oder «das Virus»?

Das oder der neuartige Coronavirus macht Schlagzeilen, und die Berichterstattung darüber verunsichert viele Zeitungsleser und Fernsehzuschauer auch in sprachlicher Hinsicht: Mal heisst es in den Nachrichten «der Virus», mal «das Virus». Was ist nun korrekt?
Ähnliches gilt für das Partizip Perfekt des Verbs «winken» oder «hinken». Heisst es bei Facebook oft «Kirsten Altvater hat dir zugewunken» «Winke zurück», sagen Sportreporter bei Fussball-Live-Übertragungen in der Regel «Der Torhüter hat einem Mitspieler zugewunken» oder «Der verletzte Spieler XYZ ist aus dem Feld gehunken», obwohl nach DUDEN die Partizipien eigentlich «gewinkt» bzw. «gehinkt» heissen müssten. Was ist nun also richtig? Worauf können wir uns verlassen?

«Offenbar», lässt sich der Duden-Online-Seite entnehmen, «ist bei einem Virus das Geschlecht ebenso wandelbar wie seine Oberflächenstruktur. Und richtig: Ein Virus ist nicht nur in medizinischer, sondern auch in sprachlicher Hinsicht ein Verwandlungskünstler. Als Fachbegriff fand besagter Krankheitserreger zunächst als das Virus Eingang in die deutsche Sprache. Das ist typisch für bildungssprachliche Entlehnungen: Sie behalten zunächst ihr ursprüngliches Geschlecht bei. Mediziner und Seuchenspezialisten verwendeten Virus also als Substantiv sächlichen Geschlechts und blieben damit sehr nahe am lateinischen Ursprung: Mit dem sächlichen Hauptwort Virus bezeichneten die alten Römer Schleim, Saft oder Gift. Doch wie ein Virus passt sich auch eine bildungssprachliche Entlehnung allmählich an ihre neue Umgebung an. Je häufiger sie in der Alltagssprache verwendet wird, desto eher wird ihr Geschlecht dem angepasst, was gewohnt und üblich klingt. Da Substantive auf -us meist männlich sind, wurde das Virus allmählich zu der Virus. Heute existieren in der Alltagssprache beide Formen nebeneinander und beide gelten als korrekt. In der Fachsprache dagegen blieb es bei der ursprünglichen sächlichen Form: das Virus.»

Was hier ziemlich umständlich und gewunden daherkommt, findet seine Erklärung auch in den Partizipien von «winken» und «hinken». Da die Sprachauffassung der Dudenredaktion im Unterschied zur Académie française, jener französischen Gelehrtengesellschaft mit Sitz in Paris, eine Mischung zwischen präskriptiver und deskriptiver Bestimmung ist, lassen sich Schwankungen im Sprachgebrauch relativ einfach festsetzen. Ist es das Ziel der 1635 unter Ludwig XIII. auf Betreiben des französischen Kardinals Richelieu begründeten Gesellschaft, an der Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache festzuhalten, begreift der Duden «Sprache» im Sinne von Wilhelm von Humboldt eben nicht als «Ergon» (= Werk), sondern als «Energeia» (= die wirkende Kraft). Damit wird das Zeichensystem des Menschen, mittels dessen er sich verständigt, als Handlung bestimmt, die im Unterschied zur französischen Sprachauffassung einem ständigen Wandel unterliegt. (Von hier aus lässt sich vielleicht auch einsehen, warum es so viel einfacher ist, statt Französisch Englisch zu lernen. Der Grundsatz der meisten Englischlehrer lautet nämlich «Fluency before accuracy», wohingegen die Französischlehrer schon nach der dritten oder vierten Lektion auf jedem richtig gesetzten «accent aigu, grave oder circonflexe» (i.e. é, è, ê) bestehen, eine Fehlerintoleranz, die sich wohl kaum positiv auf das Lernklima auswirkt.
Zurück zum Sprachverständnis des Dudens: Dieses besagt selbstverständlich in keiner Weise, dass jeder Schreibweise Tür und Tor geöffnet ist, sondern lediglich, dass der Duden eine Mischung aus deskriptiver und präskriptiver Grammatik (Orthografie) favorisiert. Dies hat zur Folge, dass eben oft unterschiedliche Schreibweisen eines Wortes für korrekt erklärt werden. Mit anderen Worten kann man im Sinne der Duden-Orthografie «Grafit» oder «Graphit» sowie «Delfin» oder «Delphin» schreiben, beides ist richtig.

«Häufig gebrauchte Fremdwörter», schreibt die Duden-Redaktion, «können sich nach und nach der deutschen Schreibweise angleichen. In diesen Fällen sind oft sowohl die eingedeutschten (integrierten) als auch die nicht eingedeutschten Schreibungen korrekt.»
ZUM BEISPIEL

• Delfin oder Delphin
• Grafit oder Graphit
• Jogurt oder Joghurt
• Panter oder Panther
• Tunfisch oder Thunfisch

Die Möglichkeit, Wörter so oder anders zu schreiben, verunsichert natürlich viele, insbesondere geübte Schreiber. Daher meine Empfehlung, bei sprachlichen Zweifelsfällen am besten davon auszugehen, dass beide Varianten richtig sind. Mithin spielt es im Sinne der sprachlichen Korrektheit für deutsche Sprecher denn auch keine Rolle, ob sie nun «das Virus» oder «der Virus» als Ausdruck für ein infektiöses Partikel verwenden, das aus Nukleinsäuren (DNA oder RNA), Proteinen und ggf. einer Virushülle bestehen kann.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich