SCHÜLER KÖNNEN KEINE SPRACHE

Viele Studierende haben Mühe mit der Rechtschreibung, aber auch Grammatik und sprachlicher Ausdruck machen ihnen zu schaffen. Hochschulprofessoren stellen einen dramatischen Kompetenzverlust fest: Orthografiefehler, Fallfehler, mangelnde Interpunktion oder falsch verwendete Metaphern zeigen, dass das Niveau der Studierenden zum Teil erschreckend ist. Problematisch ist dies zum Beispiel bei künftigen Rechtsvertretern. Wer sich nicht ausdrücken kann, wird nie ein guter Jurist. Dabei geht es nicht um wissenschaftstheoretische Feinheiten, nicht um Expertenwissen oder Spiegelfechtereien im oft belächelten Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern um eine leider völlig abhanden gekommene Selbstverständlichkeit, die eigentlich bereits mit dem Erreichen der Mittelstufe gegeben sein sollte: die Beherrschung der deutschen Grammatik. Dabei ist das eigentliche Sprachproblem nicht so gelagert, dass der gemischte Konjunktiv in der indirekten Rede nicht korrekt angewendet wird, oder die Regeln der Interpunktion weder verstanden noch umgesetzt werden, auch nicht, dass die Gross- und Kleinschreibung ein grosses Rätsel des Schreibuniversums zu sein scheint. Es werden vielmehr Fehler gemacht, die auch einem Volksschüler nicht mehr unterlaufen sollten. Der Verdacht liegt nahe, dass an den Schulen, wenn überhaupt, zu wenig geübt wird. Aufsätze und Diktate werden spätestens nach der sechsten Primarschule eingestellt. Wird dieser Missstand laut artikuliert, sieht man sich zumeist dem Vorwurf ausgesetzt, man sei ein Ewiggestriger, der die Zeichen der Zeit nicht erkenne oder zu wenig vertraut sei mit bestimmten Krankheitsformen wie ADHS. – In der erschütternden Unkenntnis der deutschen Sprache drückt sich allerdings nicht nur aus, dass offensichtlich kaum noch Bücher gelesen werden. Sie spiegelt ausserdem ein Problem wider, das mit der Abschaffung des Frontalunterrichts eingetreten ist: Der Verzicht auf didaktische Anleitung führt dazu, dass eine Fehlerkontrolle ausbleibt und die Schüler in ihrem oftmals falschen Selbstbild von ihren Leistungen nicht nur bestärkt, sondern paradoxerweise gleichzeitig auch alleine gelassen werden. Allzu oft wird an den Universitäten dieses Problem nicht etwa behoben, sondern durch die verantwortungslose inflationäre Vergabe guter Noten fortgesetzt. Dass die Noteninflation im Unterrichtsfach Deutsch freilich schon lange zuvor, nämlich mit der Vergabe der Maturitätszeugnisse, eingesetzt hat, wird dabei meistens unterschlagen. Wie soll nun aber diesem Malaise begegnet werden? Man kann auch sagen, dass der oben aufgeführte Sachverhalt gleichermassen für andere Schulfächer wie Französisch oder Mathematik zutrifft, nur dass die Schüler, wie sich im Hinblick auf das Fach Mathematik zeigt, nicht durch die inflationäre Vergabe guter Noten in Unkenntnis ihrer Inkompetenz verharren. Dabei liegen die Dinge für alle, die sehen wollen, klar zutage: An Schweizer Schulen und Universitäten hat eine systematische Niveaunivellierung stattgefunden, die das Ergebnis einer wachsenden Scheu ist, den Lernenden gegenüber Grenzen zu ziehen. Statt schlechte Leistungen als solche zu benennen, werden sie pathologisiert, statt Unterschiede zu sehen und zu akzeptieren, scheint man weiterhin so zu tun, als wolle man alles allen eröffnen, egal, ob sie dazu geeignet sind oder nicht.

GENUG GEJAMMERT!
Ich will mich nicht einreihen in den Chor derer, die den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören. Und schliesslich soll jetzt alles besser werden. Da es im Studium zu spät ist, korrektes Deutsch zu lernen, wollen Bund und Kantone zusammen mit der Wirtschaft die Hürden für die Matur leicht erhöhen. Vor allem Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, fordert, so die NZZ in ihrer Online-Ausgabe vom 21.08.2021, dass künftig nur noch die Maturitätsprüfung besteht, wer in Mathematik und Deutsch mindestens die Note 4 schafft. «Mittlerweile hat eine Fachgruppe erste Vorschläge für eine Maturitätsreform erarbeitet und zur Debatte gestellt.» Die Wirtschaft nimmt diese Debatte zum Anlass, um die Vorschläge weiter zu konkretisieren. «Bei Mathematik und Erstsprache muss im jeweiligen Fach eine genügende Maturitätsfachnote erreicht werden», so die Forderung des Dachverbands Economiesuisse. Wer also in Mathematik und Deutsch nicht mindestens die Note 4 schafft, soll durchfallen. Zur Begründung verweist Economiesuisse auf den Hauptzweck der Maturität: Sie soll den Gymnasiasten die «allgemeine Studierfähigkeit» verleihen, damit sie ohne Eintrittsprüfungen an den Hochschulen bestehen können. Und für diesen Studienerfolg, so der Dossierverantwortliche Roger Wehrli, seien Deutsch und Mathematik nun einmal entscheidend. «Hier dürfen wir keine Kompromisse machen.»

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild: Oxford University, All Souls College, AL