THE FLY GETS IN, BUT CAN’T GET OUT

Einer der bedeutendsten österreichischen Denker des 20. Jahrhunderts war ein Mann von besonderem Ruf, über dessen Ankunft in Cambridge John M. Keynes, der britischer Ökonom und Mathematiker, Anfang 1929 sagte: «Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug.» Der Mann, von dem hier die Rede ist, war Millionenerbe eines österreichischen Stahlindustriellen, ein Aussenseiter, der mit Kühen und Schafen sprach, allerdings kein verrücktes Genie, aber ein hochsensibler, innerlich zerrissener und zeitweise depressiver Mensch. Seine beiden Hauptwerke, der «Tractatus logico-philosophicus» sowie die «Philosophischen Untersuchungen», wurden zu zentralen Bezugspunkten zweier philosophischer Schulen, des «Logischen Positivismus» sowie der «Analytischen Sprachphilosophie». Sein rund 20.000 Seiten umfassender philosophischer Nachlass wurde 2017 in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes eingetragen.

In Wittgensteins Spätwerk zerfallen die Welt und die sie abbildende Sprache nicht mehr in unauflösbare Dinge und deren logisch mögliche Verknüpfung in Sachverhalte oder Sätze. Nicht mehr die zeitlosen Kombinationsvorgaben der Logik bestimmen den Sprachbau. Vielmehr vergleicht Wittgenstein die Sprache nun mit einer «alten Stadt»: «Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten: und dies umgeben von einer Menge Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern» [ § 42]. Dennoch blieb für ihn die Sprache, ihre «Grammatik», der Raum des Denkens und der Wirklichkeit. «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache» [§ 43]. Gebrauch aber ist die Funktion eines Ensembles von Gepflogenheiten oder einer «Lebensform», die in «Sprachspiele» zerfällt. «Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform» [§ 44]. Pädagogen haben andere Sprachspiele als Mediziner oder Kaufleute, Agnostiker andere als Gläubige. Aufgabe der Philosophie bleibt demnach die Auseinandersetzung dieses oder jenes Sprachgebrauchs. «Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache» [§ 45]. Gegenstand der Philosophie ist somit die Alltagssprache. «Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen auf ihre alltägliche Verwendung zurück»[ § 46]. So besehen ist der Zweck der Philosophie eine Therapie. «Der Philosoph behandelt eine Frage, wie eine Krankheit» [§ 47]. Der in seiner Sprachverwirrung gefangene Mensch soll wieder befreit werden. Darum zum Schluss auch die Frage: «Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen» [§ 48]. Die späte Philosophie Wittgensteins ersetzt dabei den Begriff «Logik» durch «Grammatik». Der Unterschied besteht darin, dass im Gegensatz zur Logik die «Grammatik» als Ensemble von Gepflogenheiten einer Lebensform «Veränderungen unterworfen ist.» Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass weder «Logik» noch «Grammatik» in ihrer Totalität aus sich selbst erklärbar sind. Im Sinne Wittgensteins lässt sich das, was sie ausmacht, nicht sagen, aber es zeigt sich. Das Wesen aller Begriffe erkläre sich laut Wittgenstein durchgängig aus der Darstellung ihres Verwendungszusammenhangs oder «Sprachspiels». Der Zweck der Philosophie ist somit die Klärung der Gedanken, entsprechend ist sie keine Lehre wie die «Dialektik», sondern eine «Tätigkeit». Angesichts des lösungsorientierten Ansatzes wird man Wittgensteins Spätwerk nicht gerecht, wenn man versucht, die unmittelbare Beschreibung von etwas Absolutem daraus abzulesen. Wittgenstein hat auch dergleichen nirgends erläutert oder ausgeführt, sondern lediglich Verfahren vorgeschlagen zur Lösung von geisteslähmenden Absolutheitsanmutungen, deren Wurzel er in der unhinterfragten Annahme eingefrorener Bilder sah. «Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen», heisst es unter § 115 der «Philosophischen Untersuchungen».

Wenn Wittgenstein als Ziel seiner Philosophie angibt, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen, so meint er damit, die ewigen Probleme einer überkommenen Philosophie als Scheinfragen und Sprachverwirrungen zu entlarven. Die Philosophen bedienen sich einer abgehobenen, dem alltäglichen Gebrauch fremden Sprache und schaffen sich dadurch ihre eigenen Scheinprobleme. Indem Ludwig Wittgenstein Wörter wie «Sein», «Zeit», «Geist» oder «Ich» von ihrer metaphysischen auf eine alltägliche Verwendung zurückführt, zeigt er, metaphorisch gesprochen, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
«Stable Fly» by Kurt Treftz, Cascade Pest Control, USA