TRENNE DIE SCHREIBPHASEN

Unter «Fragen & Antworten» zur Zentralen Aufnahmeprüfung an eine Zürcher Kantonsschule findet sich auf der entsprechenden Homepage zum Thema Hilfsmittel folgender Abschnitt:

«Für die Prüfung braucht es Füllfeder, Kugelschreiber oder Filzstift. Lösch- und radierbare Stifte wie z. B. Frixion Pens dürfen nicht verwendet werden. Ein Bleistift darf nur für geometrische Konstruktionsaufgaben verwendet werden, wenn dies ausdrücklich erwähnt wird.»
Da wohl niemand so richtig weiss, was unter einem «Frixion Pen» eigentlich zu verstehen ist, möchte ich es an dieser Stelle aus aktuellem Anlass genauer erklären. Bei einem «Frixon Pen» handelt es sich um ein Tintenschreibgerät, mit dem Du schreiben und bei Bedarf das Geschriebene durch Reiben (FRIXION) «wegradieren» kannst. Einfach mit dem am Schaftende sitzenden Gummistopfen über den Text reiben. Das Geschriebene verschwindet wie von Zauberhand und das ganz ohne Tintenlöschstift oder Korrekturroller. – Praktisch, so dass es nicht verwundern kann, dass an der Volksschule alle mit einem «Frixion Pen» schreiben. Warum ist er denn an der Aufnahmeprüfung für ein Gymnasium verboten? Offenbar verschwindet eine einmal korrigierte Schrift, wenn der Lehrer das Aufsatzblatt zu lange an der Sonne liegen lässt. Daher beschliessen die meisten Aufnahmeprüfungskandidaten, einfach einen normalen Kugelschreiber zu verwenden, streichen kann man ja schliesslich noch immer. Wer es besonders gründlich machen will, nimmt sogenanntes flüssig Tipp-Ex mit, um sicher zu sein, allfällige Fehler dauerhaft korrigieren zu können. Freilich handelt er sich dabei einen schwerwiegenden Nachteil ein: Entweder sieht das Manuskript, also das Aufsatzblatt, vor lauter Fehlerberichtigungen unleserlich oder unkoordiniert und unstrukturiert aus. Noch schlimmer ist freilich, dass bei der Korrektur mit flüssig Tipp-Ex die Schreib- und Korrekturphase getrennt werden. – Solange der Grundsatz gilt, Schreibphasen nicht zu trennen, sollte in jedem Fall darauf verzichtet werden, jeden kleinen Fehler sogleich mit flüssig Tipp-Ex korrigieren zu wollen. Viele meiner Schülerinnen und Schüler trennen die Schreibphasen nicht konsequent und wundern sich dann, wenn keine anständigen Texte entstehen. Setzen wir der Einfachheit halber zwei Schreibphasen voraus: Zunächst schreibst Du einen Entwurf, eine erste Fassung. Diese überarbeitest Du dann solange, bis das Ergebnis brauchbar oder gut (wenn auch nie perfekt) ist.

Ein möglicher Grund für Schreibblockaden besteht darin, dass der innere Kritiker sich schon während der ersten Phase überlaut bemerkbar macht. Deshalb solltest Du die beiden Phasen konsequent auseinanderhalten. Also beim Schreiben der ersten Fassung dem inneren Kritiker konsequent den Mund verbieten oder ihn einfach nicht beachten. Bei der Überarbeitung, dem zweiten Schritt, darf er sich dann ruhig wieder melden. Aber möglichst höflich, bitte. Der Vorteil dieser Schreibstrategie liegt im Umstand, dass Du Dir beim ersten Entwurf sagen kannst: «Diesen Text braucht nie jemand zu sehen. Der ist nur für mich.» – Das befreit ungemein. Vielleicht sind Kinder, wenn man sie lässt, aus diesem Grund so kreativ und voller Einfälle. Es fehlt ihnen der «innere Zensor».

Um nochmals auf den Anfang zurückzukommen, zeigt sich auch bei vielen meiner Studenten, dass sie die Schreibphasen nicht trennen und also auch auf keinen grünen Zweig kommen. Indem sie zum Beispiel mit Kugelschreiber einen Essay schreiben und jeden kleinen Fehler sogleich korrigieren, vermischen sie konsequent Schreib- und Korrekturphase. Vielleicht kennst Du das, oder Du machst es gar selber? Da sie unentwegt darauf warten müssen, bis das flüssig Tipp-Ex eingetrocknet ist, kommen sie gar nie in einen Schreibfluss. Möglicherweise schreiben sie sogar zu früh wieder mit ihrem Kugelschreiber, stellen fest, dass das flüssig Tipp-Ex noch gar nicht trocken ist, und beginnen wieder von vorne zu korrigieren. Wer kann sich dann noch wundern, wenn überhaupt nie ein Schreibfluss entsteht, sie gleichsam immer wieder entgleisen, statt einmal richtig gut aufgegleist ihre Schreibstrecke runterzusurfen. Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass schon der österreichische Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein festgestellt hat: «Den richtigen Stil schreiben heisst, den Wagen genau aufs Geleise setzen.»

PS:
Zu Recht fragst Du Dich jetzt sicher, wie Du denn überhaupt einen Aufsatz in zwei Monaten an der Aufnahmeprüfung schreiben sollst. Ich empfehle einen normalen Schülerfüller mit königsblauer Tinte. Die lässt sich nämlich wunderbar mit der Spitze eines Tintenkillers löschen und nachher mit der Überschreibspitze in Tintenfarbe neu beschreiben. Capito?

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild: ANDY WARHOL: Johann Wolfgang von Goethe, 1982