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«Das wenigste, das man liest, kann man brauchen; aber das meiste, was man braucht, hat man gelesen», schreibt der deutsche Essayist Ernst R. Hauschka. Der Aphorismus gilt selbstredend nicht nur für die «schöne Literatur», also die «Belletristik», sondern ebenso für wissenschaftliche Texte im Studium. Studierende aller Fächer müssen grosse Mengen an Fachliteratur lesen, verstehen und in ihren eigenen wissenschaftlichen Arbeiten wiedergeben. Das fällt nicht nur Anfängern schwer, sondern häufig auch erfahrenen Autorinnen und Autoren. Natürlich gibt es wie beim Schreiben auch beim Lesen wissenschaftlicher Texte nicht den einen besten und für alle gültigen Weg. Trotzdem solltest Du folgende zwei Dinge beachten:

1. Wissenschaftliches Lesen ist immer aktiv: Als Leser musst Du ein Ziel verfolgen bzw. eine Vorstellung davon haben, warum Du den Text überhaupt lesen willst. Bist Du ein passiver Konsument, der den Text einfach nur durchliest, wirst Du keinen grossen Nutzen davon haben. Statt also einfach wie beim «Speed Reading» die Fähigkeit zu entwickeln, überdurchschnittlich schnell Texte zu lesen und dennoch den Inhalt zu verstehen, solltest Du für Dich die Frage beantworten können, welchen Gewinn Du vom Lesen des Textes haben könntest. Andernfalls wird das Lesen anstrengend, und die Gefahr besteht, vor sich hinzudümpeln, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen.

2. Aus diesem Grund muss die Lektüre von Fachtexten vorbereitet werden. Anstatt planlos das Schnelllesen zu kultivieren, solltest Du Dir angewöhnen, den Text erst einmal so anzunehmen, dass Du seine Grundstruktur zu erkennen vermagst. Oberstes Ziel ist es, einen Eindruck davon zu bekommen, worum es eigentlich geht. Nutze dazu das Inhaltsverzeichnis, die Kapitelüberschriften, das Vorwort sowie das Sach- und Stichwortregister. Erst wenn Du einen groben Eindruck bekommen hast, was Du vom Text erwarten kannst, solltest Du entscheiden, ob es sich lohnt, den Text intensiver zu rezipieren. Entscheidest Du Dich dagegen, kannst Du ihn mit gutem Gewissen weglegen.

Über diese beiden grundlegenden Aspekte hinaus musst Du als Leser oder Leserin selbst entscheiden, welche Lesestrategie für Dich die effektivste Förderungsmöglichkeit zur Steigerung Deiner Lesekompetenz darstellt. In der zahlreichen «Ratgeberliteratur» wirst Du auf viele unterschiedlich benannte Ansätze stossen, wobei auch hier gilt, dass je mehr Strategien genannt werden, desto geringer ihre Unterschiede ausfallen. Trotzdem empfehle ich Dir, es einmal mit der sogenannten SQ3R- oder SQ5R-Methode zu versuchen, zumal im Grunde alle modernen Lern- und Lesestrategien sich mehr oder weniger auf diese Strategie beziehen, indem der Ablauf oder einzelne Schritte übernommen werden. Hintergrund sind empirisch belegte, positive Effekte auf das Leseverständnis und die Stützung durch Modelle der Kognitionspsychologie.

Die SQ3R-Methode bezeichnet eine von Francis P. Robinson entwickelte Methode zum aktiven oder verstehenden Lesen, die in seinem Buch «Effective Study» erstmals vorgestellt wurde. Die Buchstabenfolge SQ3R steht für die Abfolge, in der der Leser ein wissenschaftliches Buch zur Kenntnis nehmen sollte. Abkürzend sind gemeint: « Survey»,» Question», «Read»», »Recite» und «Review». Es geht dabei nicht so sehr um das Erhöhen der Lesegeschwindigkeit, sondern vielmehr um das Verstehen und Behalten von Inhalten. Evaluationsstudien haben empirisch nachgewiesen, dass sich dadurch Lernen und langzeitliches Verständnis von Texten verbessern lassen.

Die einzelnen Schritte werden von Francis P. Robinson im Einzelnen wie folgt beschrieben:

A) SURVEY
Zunächst geht es darum, den Text so vorzubereiten, um ihn anschliessend erarbeiten zu können. Nachbereitet wird er zum Schluss, um sicherzugehen, dass Du das Gelesene verstanden hast und auch behältst. Als Erstes verschaffst Du Dir daher einen Überblick.
Das bedeutet, dass Du noch nicht liest, sondern Dich erstmal dem Inhaltsverzeichnis und dem Klappentext widmest. Anschließend suchst Du die einzelnen Seiten nach Fettgedrucktem, Überschriften und Abbildungen ab. Dadurch bekommst Du ein Gefühl für die Sprache und den Rhyth­mus der Erörterungen. Du weisst, wo die Schwerpunkte liegen, wie der Text aufgebaut ist und ob der Autor irgendwelche stilistischen Besonderheiten verwendet.

B) QUESTION
Anschliessend stellst Du Fragen an den Text. Am besten schriftlich, denn im weiteren Verlauf kannst Du diese noch gebrauchen. Dieser Schritt ist wichtig, weil Du durch die Fragen Dein Gehirn auf das für Dich Wichtige ausrichtest. Im Prinzip baust Du einen Filter ein. Dein Gehirn weiss nun in etwa, welche Informationen Beachtung verdienen und welche Du vernachlässigen kannst. Ausserdem arbeitest Du fokussierter, wodurch Du ein gewisses Interesse am Text erzwingst. Mit anderen Worten bist Du nicht nur motivierter beim Lesen, sondern steigerst auch Deine Gedächtnisleistung. (Solltest Du ein ganzes Buch zu lesen haben, kannst Du durch die Kombination der ersten beiden Schritte auch schon Passagen oder Kapitel ausfindig machen, die für Dich uninteressant sind.)

C) READ
Im dritten Schritt geht es ans Lesen selbst. Lies jene Passagen, die Dir wichtig und hilfreich erscheinen. Wie Du das machst, ist Dir überlassen. Wichtig ist, dass Du aktiv liest. Das bedeutet: Du markierst Schlüsselwörter und schreibst zu jedem Absatz eine kurze Randbemerkung. Beim Markieren kannst Du auch verschiedene Farben oder Stiftarten verwenden, um eine Hierarchie einzuhalten: Beispiele in einer Farbe, Definitionen in einer anderen. Nicht schaden kann dabei eine kleine Legende, schliesslich solltest Du auch nach ein paar Tagen noch erkennen können, welche Markierung was bedeutet. – Bei Fachbüchern, die Du Dir in der Bibliothek ausleihst, ist dieser Schritt etwas komplizierter. Hierfür empfehle ich Dir zu prüfen, ob Deine Hochschule auch ein Onlineangebot hat. Dann kannst Du die wichtigen Kapitel und Texte auf Dein Tablet herunterladen und dort bearbeiten.

D) RECITE
Als Nächstes fasst Du den Text in eigenen Worten zusammen. Ein Satz pro Abschnitt, nicht mehr, das muss genügen. Achte darauf, dass Du die Dinge, die Du notierst, auch wirklich verstanden hast und erklären könntest. Fällt es Dir schwer, Dich vom Wortlaut des Textes zu lösen, ist Letzteres wahrscheinlich noch nicht der Fall. Natürlich sollte beim Zusammenfassen die Beantwortung der Fragen aus Schritt 2 im Fokus stehen.

E) REVIEW

Nachdem Du die ersten vier Phasen vervollständigt hast, solltest Du das Gelesene unbedingt wiederholen. Nutze Deine Notizen, um die Kernaussagen knapp wiederzugeben. Beantworte Fragen zum Text aus dem Gedächtnis. Ergänze Deine Notizen: Wenn Du diese kurz vor der Klausur noch einmal durchliest, wirst Du die wichtigsten Punkte noch immer verstehen.

Möglich, dass diese fünf Schritte auf den ersten Blick etwas aufwendig und zeitintensiv wirken. Vielleicht fragst Du Dich jetzt, ob Du so nicht viel mehr Zeit aufwenden musst. Viele Schritte werden in der Rezeption daher gerne zusammengefasst, verlieren dadurch aber an Effizienz. Der grosse Vorteil dieser Lesetechnik gründet im Umstand, dass Du Dir so keine Zeit sparst, um schwierige Texte zu verstehen und den Inhalt abzuspeichern. Durch die aktive Beschäftigung mit dem Gelesenen prägst Du Dir dafür die Kernaussagen besser ein. Das steigert Deine Konzentration und Deinen Lernfortschritt, um die Anforderungen an das Lesen in der Hochschule gewinnbringend bewältigen zu können.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Steve McCurry, Piemont