Wer ist Dein Leser?

Beim Schreiben bist Du zwar allein, aber Du vergisst selten, dass jemand Deinen Text lesen wird, der in der aktuellen Schreibsituation nicht anwesend ist. Im Grunde handelt es sich bei der Schreibsituation um eine zerdehnte Sprechsituation, in der die Einheit von Sprecher und Hörer aufgelöst ist. Entsprechend kann der Adressat weder zurückfragen noch unmittelbar antworten, dafür kann er Deinen Text mehrfach lesen und jedes Wort prüfen. Vielleicht belastet Dich diese Vorstellung beim Schreiben und so wirst Du übergenau jedes Wort prüfen und den Text immer wieder überarbeiten, bis er nicht mehr falsch verstanden werden kann. Gleichzeitig solltest Du Dir dabei im Klaren sein, dass Texte gar nie fertig sein können. «Schreiben ist ein Geschäft für Nichtkönner», wie Peter Bichsel einmal richtig festgestellt hat. Über diesen Punkt kannst Du Dir gar nicht genug konkrete Gedanken machen, wenn Du nicht in einer Schreibblockade enden willst.

Langer Rede, kurzer Sinn: Egal, um was für einen Text es sich handelt, wirst Du, je nachdem, an wen Du Dich richtest, die Färbung Deiner Formulierungen ändern. Es macht schliesslich einen Unterschied, an wen Du Dich mit Deinen Ausführungen wendest. Ähnlich wie bei mündlichen Äusserungen wirst Du Dich auch bei schriftlichen Ausführungen anders ausdrücken, wenn sich Dein Text an einen Hauptschüler, eine Verkäuferin an der Ladenkasse bei Aldi, an einen Mitstudenten oder eben an Deinen Professor richtet. Aus der Begrifflichkeit des Vorgetragenen, aus seiner Stilhöhe und seinem Ton lässt sich erschliessen, wie Dein Professor als Leser beschaffen ist, damit er den Inhalt Deiner Arbeit überhaupt nachvollziehen kann. So mag ein Text einen Professor mit umfassenden Kenntnissen in der «Hermeneutik» voraussetzen, ein anderer einen Lehrer, der mit der Fachterminologie des «Logischen Atomismus « vertraut ist. Anders ausgedrückt, machen Texte durch viele offene oder subtile Zeichen die Zugehörigkeit zu einer Diskursgemeinschaft kenntlich. Die rhetorischen Mittel sind in jeder Gruppe andere. Als Autor drückst Du dadurch Deine Zugehörigkeit aus, wie Du Dich selbst im Text positionierst und wie Du Deine Adressaten ansprichst.

Ausserdem lässt sich aus der Art, wie Du formulierst, auf Dein gefühlsmässiges Verhältnis zum Leser schliessen. (Ein nicht zu unterschätzender Faktor sowohl in der mündlichen als auch in der schriftlichen Kommunikation.) Ein Bild von seinem konkreten oder hypothetischen Leser zu haben, bedeutet, zu wissen, in welches Genre Du gehörst, noch mehr aber, welchen Leserkreis innerhalb Deines Genres Du gerne bedienen möchtest. Diese Erkenntnis hilft Dir beim Schreiben, Entscheidungen zu treffen und nicht nur «für Dich selber» zu schreiben. (Mit Sicherheit einer der grössten Fehler, den man bei der schriftlichen Kommunikation begehen kann.) – Anders ausgedrückt, musst Du Dich als Autor eines Textes um Kommunikation bemühen. Das macht das Formulieren nicht einfacher, aber fokussierter. Dein Text gewinnt dadurch an Qualität.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild: Gustav Adolf Henning, 1797 – 1869,
«Lesendes Mädchen»