WIE DU GUTE FRAGEN STELLST

Die Frage, wie Du gute Fragen stellst, ist für alle von Belang. Rolf Dobelli, der Schweizer Schriftsteller und Gründer von «getAbstract», stellt in seinem Frage-Buch «Wer bin ich?» 777 INDISKRETE FRAGEN, denen sich jeder mindestens einmal im Leben stellen sollte. Im Grunde handelt es sich bei Dobelli um eine bewusste Fortführung von Max Frischs Arbeitsweise aus dem «Tagebuch 1966-1971». Der Fragestil und die Methodik, die Sprache und der Aufbau sind so gut wie identisch. Dobelli transportiert die Fragebogen in die Gegenwart, erweitert die Themen unter anderem um Karriere, Management und Sex sowie abstraktere Begriffe wie Denken und Handeln. Er ist in der Modernisierung dabei so gründlich, dass des Öfteren auch Begriffe und Vergleiche aus der Wirtschafts- und Geschäftswelt Eingang finden.

Selbstredend gehen die Fragen nicht immer nett und höflich mit ihrem Leser um. Sie sind – wie es der Titel bereits sagt, – indiskret, aber sie sind niemals überheblich. Wer sich ihnen stellt und sich auf sie einlässt, eine natürliche Grundvoraussetzung, wird sich nicht nur mit seinem Blick auf die Welt, sondern auch kritisch mit seinem Ego, mit seiner Position, seinem Umfeld, dem Blick der Anderen auf sich selbst, seinen Zielen und deren Nicht-Erfüllung auseinandersetzen können. Die Fragen scheinen dabei so manches Mal fast Potential zu haben, einen Egozentristen in die Entwicklung zu einem reflektierten Menschen zu bewegen, wenn der denn nur mitspielt.

Allerdings ist das, was Frisch und Dobelli vorlegen, keineswegs neu, sondern steht in langer Tradition. Fragebogen dieser Art waren ein beliebtes Gesellschaftsspiel im England des vorletzten Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat sie dann Max Frisch, Rolf Dobellis Vorbild, bekannt gemacht. Sein Nachfolger ist ihnen nicht nur «erlegen», sondern präsentiert mit seiner eigenen Sammlung den Versuch, daran anzuschließen und sie noch ein bisschen weiterzutreiben.

Ende des 19. Jahrhunderts, soviel lässt sich im Hinblick auf Marcel Prousts berühmten Fragebogen und die leichte Konversation, den heutigen SMALLTALK also, festhalten, galt als kultiviert und gebildet, wer die hohe Kunst des Fragestellens beherrschte. Im Viktorianischen England kam die Mode auf, seine Gäste Fragebogen ausfüllen zu lassen – zur Belustigung und Belehrung der Gastgeber, vor allem aber als Andenken. Karl Marx notierte in solch einem Album als sein Motto «De omnibus dubitandum» (Zweifle an allem), Unterwürfigkeit war ihm das meistverhasste Laster. Die Mode schwappte schnell von England auf den Kontinent über und wurde zum angesagten Zeitvertreib in den europäischen Salons. Zwei Mal in seinem Leben, mit 14 und mit 21 Jahren, füllte Marcel Proust den Fragebogen aus, der heute nach ihm benannt ist.

Um in der richtigen Situation auch die richtige Frage zu stellen, machten bald kleine Spickzettel die Runde mit Fragen, die unschuldig wirkten, jedoch Seelenlandschaften entblössten. «Wie wollen Sie sterben?», «Wer wären Sie lieber?», «Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten?» oder «Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?».

Man hatte seinen Spass an den Fragen und Antworten, man konnte so flirten oder seine Bildung zeigen. Und was man noch kann, man kann damit Menschen auf eine Art ausfragen, die nicht neugierig oder aufdringlich wirkt, sofern man ein guter Zuhörer ist. Und der Spielraum der Antwortmöglichkeiten ist ein unendlich grosser. Die Person, die antwortet, kann alles über sich preisgeben oder ein Rätsel bleiben, handelt es sich doch bloss um ein Spiel, um einen launigen Zeitvertreib. Dass Marcel Proust den Fragebogen selbst nicht erfunden hat, ihn jedoch mehrere Male ausgefüllt hatte, spricht für die Qualität der Fragen.

Diese zeichnet dreierlei aus:

A) Es sind offene Fragen, mithin Fragen, die sich nicht mit JA oder NEIN beantworten lassen.

B) Es handelt sich um Fragen, die kein Vorwissen verlangen, auf die es mit anderen Worten keine richtigen oder falschen Antworten gibt. Nur aufrichtige.

C) Es sind Fragen, die nicht von Dir, sondern Deinem Gegenüber handeln, vorausgesetzt, Du hörst auch aufrichtig zu.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

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