WIE WIR WISSEN, WAS WIR ZU WISSEN GLAUBEN

«Induktion» und «Deduktion» gehören zu den Klassikern wissenschaftlicher Erläuterungen. Beide Formen des Denkens dienen dazu, etwas zu erschliessen, was zuvor unbekannt war. Soll der Leser Deiner Bachelor- oder Masterarbeit daher einen roten Faden in Deinen Erörterungen erkennen, kannst Du eines der beiden Verfahren zur Beschreibung wissenschaftlicher Erkenntnisse wählen. Beim deduktiven Forschungsansatz wird die «Vernunft» als Medium der Erkenntnis vorausgesetzt, wohingegen bei der Induktion die «Erfahrung» oder «Empirie». Die «Deduktion» beschreibt dabei den Prozess, aus bestimmten Beobachtungen oder Prämissen Erkenntnisse abzuleiten oder daraus logische Schlüsse zu ziehen, wohingegen die Induktion den umgekehrten Weg verfolgt, also aus einer oder mehreren Bedingungen eine allgemeine Regel ableitet. Klassisch ist mit «Induktion» die Erkenntnisrichtung vom Besonderen zum Allgemeinen bzw. von der «Empirie» zur «Theorie» gemeint. Demgegenüber verfolgt die «Deduktion» die Stossrichtung vom Allgemeinen zum Besonderen bzw. von der «Theorie» zur «Empirie». Dass deduktive Schlüsse in die Irre führen, falls die gesetzten Prämissen ganz oder teilweise falsch sind, versteht sich. Natürlich können auch induktive Schlussfolgerungen irreführend sein, sofern die Daten trügen oder sich als unvollständig erweisen. Streng genommen handelt es sich beim «Induktionsproblem» um ein Grundproblem der Erkenntnistheorie. Es bezieht sich auf die Frage, ob und wann ein Schluss durch Induktion von Einzelfällen auf ein allgemeingültiges Gesetz zulässig ist. Angesprochen wurde das Thema erstmals um 1740 vom schottischen Empiriker der Aufklärung, David Hume, in seinem «Traktat über die menschliche Natur». Obwohl das Induktionsproblem im Empirismus formuliert wurde, ist es ein Problem aller Philosophien oder Wissenschaften, die Induktionsschlüsse als Beweisverfahren zulassen. Bei seiner Behandlung der Kausalität stiess Hume auf die Frage, ob und wann ein Schluss durch Induktion von Einzelfällen auf ein allgemeingültiges Gesetz zulässig ist.

Diskutiert wird das Thema am Beispiel einer «Gans». Gesetzt den Fall, das scheue Tier wird täglich gefüttert. Anfangs zögert es und denkt: »Warum füttert mich dieser Mensch? Irgendetwas muss doch dahinterstecken.« Wochen vergehen, doch jeden Tag kommt der Bauer vorbei und wirft ihm Maiskörner vor die Füsse. Seine Skepsis schwindet, und nach einigen Monaten ist sich die Gans sicher: »Die Menschen sind mir wohlgesinnt!« Ihre Gewissheit bestätigt sich jeden Tag aufs Neue, bis der Bauer sie am Weihnachtstag aus dem Gehege holt und schlachtet. Die Weihnachtsgans ist dem induktiven Denken zum Opfer gefallen. Mit ebendiesem Beispiel warnt Hume vor der Induktion. Aber nicht nur Gänse sind diesbezüglich anfällig, wir Menschen sind es auch. Alle haben wir die Tendenz, von Einzelbeobachtungen auf allgemeingültige Gewissheiten zu schliessen. Das ist freilich gefährlich! Eine einzige gegenteilige Beobachtung vermag eine tausendfach bestätigte Theorie vom Tisch zu fegen. Induktives Denken kann somit verheerende Folgen haben, und doch scheint es, ohne nicht zu gehen. Wir alle bauen darauf, dass die Sonne morgen aufgeht oder dass wir gesund von A nach B kommen, dass unser Herz auch in Zukunft schlägt. Ohne diese Gewissheiten könnten wir nicht leben. Wir bauen auf diese Gewissheiten, auch wenn es rein logisch keinen Zwang gibt, nach dem Eines geschehen müsste, weil sich etwas anderes ereignet hat. (Es gibt zwar eine «logische Notwendigkeit», aber die Sätze der Logik handeln von nichts.) Oder wie es Ludwig Wittgenstein formuliert: «Die Logik hat nichts mit der Frage zu schaffen, ob unsere Welt wirklich so ist oder so (…)» T § 6.1233. Die logischen Sätze handeln von nichts. Schliessen wir von einzelnen Fällen aufs Ganze oder von der Vergangenheit auf die Zukunft, so ist das aus formal logischer Sicht zwar nicht zulässig. Trotzdem tun wir es jeden Tag.

Nach Aristoteles verfügen wir mit unserer Vernunft über das Vermögen zur unmittelbaren und irrtumsfreien Erfassung allgemeiner Wahrheiten, aus denen wir deduktiv konkrete wahre Sätze ableiten können. Gemeinhin wird aber der umgekehrte Weg gegangen: Aus vielen einzelnen Sätzen leiten wir induktiv eine Regel ab. Indessen können wir auf induktivem Weg niemals sicheres Wissen erlangen. Die allgemeine Annahme noch so vieler «weisser Schwäne» kann zum Beispiel nie ausschliessen, dass es nicht auch «schwarze Schwäne» gibt. Die Aussage «Alle Schwäne sind weiss» ist demgegenüber als Ausgangsthese eines deduktiven Arguments durch Beobachtungssätze verifizierbar, das heisst, sie lässt sich überprüfen und gegebenenfalls falsifizieren, also widerlegen.

Streng logisch lässt sich im Rückblick behaupten, dass auch die Deduktion kein Verfahren der Erkenntnisgewinnung sein kann, weil es nicht möglich ist, neue Erkenntnisinhalte aus verbindlich gesetzten Propositionen herzuleiten, die mit eben diesen nicht schon gegeben wären. Dahingegen ist sie in der Lage, vorliegende Erkenntnisse in einen geschlossenen Zusammenhang zu bringen, indem sie zum Beispiel Sprachphänomene eines Textes auf allgemein bekannte Gesetze zurückzuführen vermag, was im Bereich der Literatur- und Textwissenschaft vor allem deshalb einer rezeptionspsychologisch fundierten Pauschalisierung von Lektüreerfahrungen vorzuziehen ist, weil sich so das in der Rezeption Erkannte angesichts bereits aufgezeigter Prämissen verifizieren lässt. Die darin implizierte Forderung, historischer Forschung die Konstruktion eines Fragehorizonts vorauszuschicken, gründet im Umstand, dass historische Sachverhalte keine erklärende, sondern eine zu erklärende Kategorie darstellen. Da die Geschichte von sich aus keine Antworten erteilt, ergibt sich somit die Notwendigkeit, bei literatur- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen als erstes ein Modell oder Raster zu konstruieren, um zu intersubjektiv verifizierbaren Ergebnissen zu gelangen.

Bild:
Ludwig Wittgenstein, 1889 – 1951
by Moritz Nähr

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich