WORAN DU GUTE #NACHHILFE ERKENNST

Selbst wenn die Noten in den Keller rauschen, liebe Leserin, lieber Leser, solltest Du nicht auf die Idee kommen, Deinen Kindern selber Nachhilfeunterricht zu erteilen! «Eltern sind durchweg schlechte Nachhilfelehrer, weil sie zu dicht am Kind dran sind und die nötige Geduld nicht aufbringen», schreibt der emeritierte Erziehungswissenschaftler Prof. Peter Struck von der Universität Hamburg. Auch von Nachhilfe als Dauereinrichtung rät er ab: «Nachhilfe sollte in der Regel nicht mehr als neun Monate dauern, weil ab dann die Gefahr der Unselbstständigkeit wächst.» Ziel des Nachhilfeunterrichts muss es sein, dem Kind innerhalb eines überschaubaren Zeitraums aus dem Leistungstief herauszuhelfen. Aufgrund eigener Erfahrungen gelingt das in der Regel auch, sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Mithin muss eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein, damit die schulische Unterstützung überhaupt zum Tragen kommt.

ERSTENS:
ES BRAUCHT EIN LERNZIEL.
Ohne klar definiertes Lernziel läuft überhaupt nichts. Ähnlich wie beim Erlernen eines Musikinstruments auf ein Konzert hin geübt wird, und sei es noch so bescheiden, kann schulische Förderung in einem Unterrichtsfach allein dann gelingen, wenn alle Beteiligten sich einig sind, was mit den Zusatzstunden erreicht werden soll. Häufig ist es die Verbesserung des Notenstands oder die erfolgreiche Vorbereitung auf eine Aufnahmeprüfung in ein Gymnasium. (Vor Monaten rief mich zum Beispiel eine Mutter an, deren Sohn kurz vor den Maturitätsprüfungen die letzte Klasse wiederholen musste. Natürlich war der Schüler frustriert und demotiviert und hielt wenig vom Vorschlag seiner Mutter, die deutsche Sprache allgemein über Grammatik zu verbessern. Bei unserem ersten Treffen erklärte ich ihm, mich in erster Linie darum zu bemühen, dass er die Maturitätsprüfung besteht. Sein Deutsch könne er auch später noch verbessern. Also begleitete ich ihn möglichst eng im Hinblick auf Sprachprüfungen und Aufsätze durch das letzte entscheidende Semester. (Unterstützung in den MINT-Fächern brauchte er keine.) Die verbesserten Prüfungsergebnisse stärkten sein Selbstbewusstsein und förderten das allgemeine Interesse an der Schule. Er schloss Freundschaft mit einer Schülerin aus der Parallelklasse, und nach einem halben Jahr stand ausser Frage, dass er beim zweiten Versuch die Abschlussprüfung bestehen würde.

ZWEITENS:
ANZUSTREBEN SIND DIE KLARE STRUKTURIERUNG DES UNTERRICHTS SOWIE EIN MÖGLICHST HOHER ANTEIL ECHTER LERNZEIT.
So wie im Normalunterricht auch kommt der Nachhilfelehrer nicht, um über seine Probleme zu diskutieren oder sich zu verschwatzen, weil er den Probeaufsatz nicht korrigiert oder die Unterlagen zu Hause liegen gelassen hat. Auch sollte er sich nach Möglichkeit nicht des Langen und Breiten über die Aufnahmebedingungen der ZAP auslassen, damit er nicht unterrichten muss. Jeder Versuchung, vom Unterrichtsgeschehen abzuschweifen, sollte der Lehrer widerstehen. Freilich gelingt dies nur über eine klare Vor- und Nachbearbeitung. Kurz, der Nachhilfelehrer muss vor der Lektion wissen, was er will. Idealerweise hat er eine Themenliste der Defizite seiner Schülerinnen und Schüler erstellt, die sie gemeinsam abarbeiten. Aufgrund ausserschulischer Verpflichtungen wie Fussball oder Ballett ist die Zeit der Schülerinnen und Schüler gerade heute äusserst begrenzt. Nichts ist daher hinderlicher, als wenn Eltern und Schüler den Eindruck gewinnen, Fortschritte blieben aus, weil keine Lernziele ersichtlich sind.

DRITTENS:
LERNZIELE MÜSSEN ERSICHTLICH SEIN.
Lernziele beschreiben den angestrebten Lerngewinn eines Nachhilfeschülers, bezogen auf einen bestimmten Lernstoff. Lehrziele geben hingegen an, welche Ziele eine Nachhilfeschülerin mithilfe der Unterrichtsthemen erreichen will. Die Kombination von Lehr- und Lernziel bezeichnet man als Unterrichtsziel. Eigentlich logisch, sollte man meinen, dass das allen Lehrpersonen bewusst sein müsste. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Eltern sich beschweren, ihre Kinder würden in der Beherrschung des Stoffes keine Fortschritte machen.

VIERTENS:
SCHÜLER UND LEHRER BILDEN EIN TEAM.
Entscheidend für den Lernerfolg ist das Unterrichtsklima. Weder Schülerinnen noch Schüler vermögen von Menschen etwas zu lernen, die sie nicht mögen. Aus diesem Grund sollten auch sie es sein, die das letzte Wort bei der Wahl des Nachhilfelehrers haben. Sind sie schon oft genug Lehrpersonen im Regelunterricht ausgesetzt, die ihnen unsympathisch sind, müssten sie wenigstens im Nachführunterricht mit jemandem arbeiten dürfen, der ihnen auf Augenhöhe begegnet. Für den Nachhilfelehrer setzt dies voraus, dass er über Empathie verfügt und das Unterrichtsgeschehen immer auch mit den Augen seiner Schülerinnen und Schüler mitverfolgt. Im damit angesprochenen Beziehungsaspekt der Kommunikation kommt zum Ausdruck, wie Schüler und Lehrer sich zueinander verhalten sollten. Die Lehrperson muss sich bewusst sein, dass sie durch die Art der Formulierungen, der Körpersprache oder des Tonfalls Wertschätzung, Respekt und Wohlwollen wie aber auch Gleichgültigkeit, Geringschätzung oder Verachtung hinsichtlich des Andern zum Ausdruck bringen kann. Mithin machen nicht Methoden und Schulstrukturen den grössten Unterschied für Lernerfolge aus, sondern die Persönlichkeit und Bildungserfahrung der Lehrpersonen. Mit Fach- und Sozialkompetenz sowie mit der Rolle als Coach setzen sich erfolgreiche Lehrpersonen ins Boot zu ihren Schülern und bilden ein Lernteam.

FÜNFTENS:
DAS MEISTE LERNEN WIR, OHNE ES ZU MERKEN.
«Wir lernen durch Irren und Fehlen und werden Meister durch Übung, ohne zu merken, wie es zugegangen ist», heisst es beim deutschen Dichter der Aufklärung Martin Wieland. Auch wenn wir das meiste lernen, ohne es zu merken, ist nachhaltiges Lernen ohne Übung nicht denkbar. Der Feststellung, dass beim schulischen Lernen die Erfolge oftmals deshalb ausbleiben, weil nicht hinreichend geübt wurde, stimmen so gut wie alle Lehrpersonen, jedoch auch die meisten Schüler und Eltern zu. Allerdings ist in der Schulpraxis von dieser grundsätzlich von allen Beteiligten geteilten Einsicht oft nur wenig zu spüren. Die vielfach beklagte Nichtverfügbarkeit der erwünschten Lernergebnisse lässt den Schluss zu, dass insgesamt zu wenig, zu ungeplant und zu ineffektiv geübt wird, und zwar innerhalb wie ausserhalb des Unterrichts. – Um Wissen nicht nur rein zu pauken und wieder zu vergessen, im Sinne der Lernbulimie, muss der Nachhilfelehrer sich der Tatsache bewusst sein, dass gerade bei ambitionierteren Lernzielen der Schüler nicht umhinkann, Strukturen wie zum Beispiel die Bildung von Passivsätzen zu begreifen und über Übungsbeispiele nach und nach zu verinnerlichen. Schlimmstenfalls fehlt auf Schülerseite jegliche intrinsische Motivation, so dass die Lehrpersonen auch zum Ergebnis kommen könnte, den Unterricht abzubrechen. Zuweilen liegt gerade hierin der grösste Lerneffekt für den Schüler oder die Schülerin, weil er oder sie vielleicht zum ersten Mal im Leben die Erfahrung macht, dass ihnen niemand verpflichtet oder etwas schuldig ist.

TO BE CONTINUED

Bild: Albertina, Wien

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich