ALLES IST EINE GESCHICHTE

Zu wissen, was ein Narrativ ist, ist heutzutage nicht nur für Geisteswissenschaftler sinnvoll. Das Lehnwort hat seinen Weg in die Alltagssprache gefunden und wird inzwischen deutlich häufiger und mit loserer Bedeutung als ursprünglich verwendet. Die sinn- und wertstiftende Erzählung vermittelt keine historischen Fakten, sondern vielmehr ein Bild, das eine Nation oder Kulturgemeinde miteinander teilt. Der englische Ausdruck «narrative» wurde 1979 vom französischen Philosophen Jean-François Lyotard (1924–1998) in seiner Untersuchung «La condition postmoderne» geprägt. In seiner Erörterung zum postmodernen Wissen beschreibt Lyotard zwei Meistererzählungen, sogenannte «méta récits», mit denen sich die Moderne Legitimation verschafft hat. Zum einen Immanuel Kants Erzählung von der zunehmenden Selbstbefreiung des Individuums durch Aufklärung, zum andern Georg Wilhelm Friedrich Hegels Erzählung vom allmählichen Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes als Ziel der Geschichte. Durch Rezeption dieser Begriffe wurde das bislang nur adjektivisch verwendete «narrativ» zu einem Substantiv mit der oben beschriebenen Bedeutung.

Nicht zu Unrecht wird der Ausdruck «Narrativ» in den Geisteswissenschaften und natürlich auch im Feuilleton als Modewort bezeichnet. Kritisiert wird vor allem, dass durch den allgegenwärtigen Gebrauch jedes Phänomen als Narrativ bezeichnet werden kann, wodurch seine Trennschärfe verloren geht. Der Begriff wird ähnlich inflationär gebraucht wie in den 70er Jahren der Ausdruck «Diskurs». Andere vergleichen den omnipräsenten Gebrauch mit dem Begriff «Dialektik». Trotzdem unterscheiden sich «Narrative» von rein fiktiven Erzählungen, da sie auf tatsächlichen gesellschaftlichen Ereignissen oder Ideen basieren. So handelt es sich bei der Erzählung um ein im Labor produziertes Virus nicht um eine Science-Fiction-Geschichte, sondern sie beschreibt für viele ein Narrativ der Verschwörungstheorien zur Covid-19-Pandemie, also einem realen Ereignis. Ein anderes Beispiel aus dem Jahr 2022 ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine. In den Augen Europas begeht Russland schreckliche Kriegsverbrechen, während der russische Präsident Wladimir Putin das Narrativ verbreitet, die russischen Armeen würden die Ukraine von Nazis befreien. Das Ereignis an sich ändert sich dabei nicht; die Geschichte, die darum erzählt wird, allerdings schon.

Neue Narrative werden teilweise gezielt eingesetzt, um die Gesellschaft zu beeinflussen. Aktuellstes Beispiel sind wohl die Narrative um die grösste Kryptowährung, den Bitcoin. Einem häufigen Narrativ zufolge handelt es sich beim Bitcoin um eine digitale Version von Gold, der sich in seiner Rolle als Wertspeicher und Absicherung gegen Inflation positioniert. Andere wiederum bedienen das Narrativ der Dezentralisierung und akzentuieren die Unabhängigkeit von Regierungen und Finanzinstitutionen, was den Bitcoin zu einer globalen und zensurresistenten Währung macht. «Fix the money, fix the world» hebt als Narrativ hervor, dass der Bitcoin aufgrund seiner digitalen Natur und Schnelligkeit als ideales Bargeld für die Zukunft dient, das als Instrument die traditionelle Finanzwelt herausfordert und revolutioniert, indem es Finanzdienstleistungen demokratisiert und Zugang für alle ermöglicht.

Narrative können als Orientierungshilfen dienen, um die Welt und den eigenen Platz in ihr zu verstehen. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist das Narrativ von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», das die Französische Revolution beflügelte. Andere bekannte Beispiele sind der Mythos «Vom Tellerwäscher zum Millionär» sowie die Angst vor dem «Great Reset», englisch für «Den grossen Neustart», jenem Narrativ, die Weltgesellschaft im Anschluss an die COVID-19-Pandemie neu zu gestalten. Auch beim Konzept des «4th Turning», der Generationentheorie von William Strauss und Neil Howe, die in ihrer gleichnamigen Untersuchung zyklische Muster von historischen Ereignissen postulieren, die in vier Generationen-Zyklen auftreten, handelt es sich im Grunde um ein Narrativ. Diese Theorie postuliert vier Phasen, wobei insbesondere das dritte und vierte zyklische Muster von vielen geteilt wird. Gemäss dieser Theorie sollen wir uns aktuell im «Winter» befinden, mithin in einer Phase des kollektiven Krisenbewusstseins, die zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen führt.

In meinem letzten Blogartikel im alten Jahr wünsche ich Dir, liebe Leserin, lieber Leser, dass Du die grossen Erzählungen als das erkennst, was sie in Tat und Wahrheit sind: Narrative. Eine inhaltliche Auseinandersetzung ist mitunter mühevoll. Trotzdem kannst Du damit zu beginnen, nach Quellen und Belegen zu fragen, damit Narrative wieder zu Versuchen der Deutung und des Verstehens werden, die eine Moral und eine Message enthalten und also auch einen Dialog ermöglichen. Allgemein rate ich zur Vorsicht in der Narrativ-Diskussion, insbesondere in der Politik, wo die Erzählung häufig mit der Realität verwechselt wird. Zum Schluss empfehle ich Dir noch einen Satz von Ludwig Wittgenstein aus den Philosophischen Untersuchungen zu bedenken: «Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.» (Ludwig Wittgenstein, PU, §115).

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

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Akademisches Lektorat