BIG BROTHER IS WATCHING YOU

«1984», im Original «Nineteen-Eighty-Four», geschrieben vom englischen Schriftsteller George Orwell in den Jahren 1946 bis 1948, ist ein dystopischer Roman, in dem ein totalitärer Überwachungsstaat im Jahr 1984 dargestellt wird. Gewiss stand Orwell 1948, als er seinen Roman «1984» fertigstellte, unter dem Eindruck der Entwicklungen in der Sowjetunion Josef Stalins. Da englische Intellektuelle dem Sozialismus sowjetischer Prägung zunehmend mit Akzeptanz begegneten, befürchtete Orwell, sie könnten sich vom totalitären Staatsdenken verführen lassen. Als Folge führte er ihnen in seinem Roman den Totalitarismus drastisch vor Augen. Trotzdem lohnt es sich, den Roman auch nach dem Untergang des Ostblocks zu lesen, denn der Text ist nicht nur ein eindringliches Plädoyer gegen totalitäre Herrschaft jeglicher Couleur, sondern hat auch literarische Qualitäten. (Eine Verfilmung der gleichnamigen Dystopie wurde im «Orwell-Jahr» 1984 von Michael Radford mit John Hurt in der Hauptrolle gedreht. Diese Filmversion wurde für ihre Vorlagentreue gelobt, die auch auf Orwells Erben zurückging, die mit der freieren Filmversion von 1956 nicht einverstanden waren.)

Winston Smith, der tragische Held des Romans, ist Angestellter im MINIWAHR, dem Ministerium für Wahrheit, das sich mit dem Nachrichtenwesen, der Erziehung und den schönen Künsten befasst. Seine Aufgabe ist es, schriftliche Zeugnisse der Vergangenheit der Gegenwart anzupassen. Unermüdlich schreibt er ältere Zeitungsartikel und Bücher um, korrigiert Statistiken und wirtschaftliche Prognosen, löscht die Namen von Personen und erfindet so die Geschichte neu. Nach der Korrektur wirft er die alten Dokumente in das Gedächtnis-Loch, wo sie verbrannt und für immer aus dem Bewusstsein der Menschen gelöscht werden. Auch der Akt des Auslöschens sollte damit vergessen werden. Freilich gelingt das nicht immer: Ende der 60er-Jahre etwa wurden in grossen Säuberungsaktionen die ursprünglichen Führer der Revolution beseitigt. Drei von ihnen, Jones, Aaronson und Rutherford, legten umfangreiche Geständnisse ab und wurden hingerichtet. Etwa fünf Jahre später fiel Winston zufällig ein alter Zeitungsartikel in die Hände, der die drei entlastete. Zu dem Zeitpunkt, an dem sie angeblich Verrat begangen hatten, waren sie tatsächlich ganz woanders gewesen. Damit schien bewiesen, dass ihre Geständnisse unter Folter erzwungene Lügen waren. Winston vernichtete das brisante Dokument, das die Macht der Partei hätte sprengen können, doch in seiner Erinnerung existiert es weiter.

Das MINIWAHR hat als Ministerium für Wahrheit die Aufgabe, die Vergangenheit durch Manipulation von Nachrichten, Dokumenten und Aufzeichnungen im Sinne der Partei umzuschreiben und zu kontrollieren. Es stellt sicher, dass die Bevölkerung nur das erfährt, was die Partei für richtig hält, und dient somit der Erhaltung der Machtstruktur und Kontrolle über die Menschen.

«Krieg ist Frieden!», «Freiheit ist Sklaverei!», »Unwissenheit ist Stärke!» prangen als Parolen der inneren Partei am Ministerium für Wahrheit. Im Superstaat Ozeanien wird mit harter Hand regiert; die Bevölkerung unterdrückt und kontrolliert. Die Gedankenpolizei überwacht jeden Schritt. «Newspeak» oder «Neusprech», die von der Partei eingeführte Amtssprache, ersetzt oder streicht schädliche Begriffe wie «Gerechtigkeit», «Moral» oder «Demokratie». Fernsehgeräte, die den ganzen Tag den Staatssender zeigen, können sämtliche Wohnzimmer akustisch und visuell überwachen und zur Erinnerung steht überall BIG BROTHER IS WATCHING YOU auf Plakaten. Obwohl Orwells Zukunftswelt fantastische Züge trägt, erkennen viele seiner Leserinnen und Leser ihre eigene Gegenwart wieder.

Insbesondere die Sprache spielt als Instrument der Manipulation auch heute eine bedeutende Rolle. Ausserdem hat der Diskurs aufgehört zu existieren, was sich allein schon daran ablesen lässt, dass in vielen politischen Diskussionen auf YouTube die «Kommentare deaktiviert» sind. Unter «weitere Informationen» findet sich dann ein Verweis, wo zu lesen ist: «Kommentare sind sowohl für Creator als auch für Zuschauer wichtig. Uns liegt aber auch die Sicherheit von Minderjährigen und anderen gefährdeten Gruppen sehr am Herzen. Manchmal deaktiviert YouTube Kommentare bei Inhalten, auch wenn diese nicht gegen Richtlinien verstoßen. Hierdurch sollen gefährdete Creator und Zuschauer geschützt werden.»

Nicht beantwortet ist dabei die Frage, warum die Kommentare gerade dann deaktiviert sind, wenn zum Beispiel Boris Pistorius oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann von sogenannt öffentlich-rechtlichen Medien interviewt werden. Im Zeitalter der digitalen Transformation hilft das allerdings wenig, weil die Einzelbeiträge in kürzester Zeit von anderen Usern in gleicher oder veränderter Form neu hochgeladen und kommentiert werden. Dagegen versucht der Staat dann wiederum durch neue Gesetze vorzugehen. So soll das «Demokratiefödergesetz», ein Gesetzentwurf der deutschen Bundesregierung, politische Bildung, Demokratie und Vielfalt fördern sowie Extremismus vorbeugen, wobei Kritiker bemängeln, dass das Gesetz den Pluralismus beeinträchtigen und Klientelismus fördern könnte, indem es bestimmte Organisationen bevorzugt und andere benachteiligt. Noch etwas weiter geht der «Digital Services Act» (DSA) der EU, eine Gesetzgebung, die darauf abzielt, den digitalen Raum sicherer zu machen und die Grundrechte der Nutzer digitaler Dienste zu schützen. Hinwiederum wird diese von Kritikern in Frage gestellt, die die Sorge hegen, dass die Bestimmungen des DSA zur Bekämpfung von illegalen Inhalten dazu führen könnten, dass legitime Meinungsäusserungen unterdrückt werden oder es zu einer übermässigen Zensur kommt. Die «Cancel Culture» lässt grüssen, also der Versuch, Personen oder Institutionen wegen problematischen Verhaltens oder Äusserungen öffentlich zu ächten oder zu boykottieren. Viele sprechen in diesem Zusammenhang auch vom «Umgekehrten Totalitarismus», ein Ausdruck, der auf eine Theorie des Politikwissenschaftlers Sheldon S. Wolin verweist, der den Begriff verwendet, um die aktuellen Machtstrukturen in modernen demokratischen Gesellschaften zu beschreiben. Hierbei geht es um eine Form der Herrschaft, in der die traditionellen Mechanismen des Totalitarismus – wie autoritäre Kontrolle und Repression – nicht offensichtlich sind. Stattdessen wird die Macht durch eine Kombination aus politischen Eliten, Grosskonzernen und anderen Interessengruppen ausgeübt, wodurch eine illiberale Scheindemokratie entsteht, die im Sinn des ORWELLSCHEN ALPTRAUMS demokratische Prinzipien und Bürgerrechte untergräbt.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

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