BIST DU KREATIV?

Eine der schönsten Definitionen von Kreativität stammt vom damals 92-jährigen Philosophen Hans Georg Gadamer. «Je älter ich werde», sagte der Heidelberger Philosoph, «desto mehr muss ich suchen. Aber je mehr ich suche, desto mehr finde ich, was ich gar nicht gesucht habe.» In dieser theoriefreien Definition von Kreativität liegt ein Schlüssel für das Verständnis. Allerdings kann es keine vollständige Theorie der Kreativität sein, denn wenn Kreativität die Kunst ist, das Unvorhersehbare zu finden, dann kann es eine prognostische Theorie der Kreativität auch nicht geben, weil dann das Unvorhersehbare vorhersehbar gewesen wäre. (Im Grunde eine andere Argumentationsfigur wie die, warum es kein vollständiges Wissen über die Zukunft gibt, die von Karl Popper stammt.) Es kann also keine prognostische Kreativitätstheorie geben, aber was es gibt, ist ein bildhaftes Betrachten von Kreativitätsbeispielen, also von Fällen. In diesem Sinn sind zum Beispiel Filme von Andrei Tarkowski oder Jim Jarmusch kreativ, weil es zuvor nichts Vergleichbares gab. Ähnliches gilt für die Romane von Thomas Bernhard oder Alain Robbe-Grillet, dem Vater des «Nouveau Roman».

Betrachten wir den gegenwärtigen Zustand der Digitalisierung, erkennt man, dass als Resultat von Kalkulisierung als externe Speicherung der Zahlenwerte, mit denen wir operieren, Mechanisierung und schliesslich Formalisierung (im Sinne der zweiwertigen Logik) sich ein Prozess ergibt, der ohne die Reanalogisierung durch die Menschen nicht denkbar ist. Mit anderen Worten ist die Welt, über die wir reden, ein System von verschiedenen Mensch-Maschine-Hybriden oder Mensch-Maschine-Tandems. Diese harken alle ineinander. Mit Digitalisierung meinen wir daher, eine Mischung aus natürlich analogen Wesen, die wir Menschen sind, mit den externen, kalkulisierten Geräten, die wir benutzen, um das, was wir als Naturwesen können, zu verbessern. Im Rahmen der Digitalisierung ist das Analoge aber immer präsent, zumal das digitalisierte Selbst nicht interpretiert ist. (Das digitale Selbst umfasst Online-Profile, soziale Medien, digitale Avatare und andere virtuelle Repräsentationen, die Menschen erstellen, um sich in der digitalen Sphäre darzustellen.) Die Interpretationsleistung im Mensch-Maschine-Tandem müssen immer die Menschen erbringen, und zwar durch Analogisierung.

Versteht man daher unter Kreativität, die Fähigkeit eines Individuums, neue Ideen, Konzepte oder Lösungen zu generieren, kann das Digitale ohne Analoges nicht wirklich kreativ sein. Ein wichtiger Unterschied zwischen Kreativität und Digitalität besteht darin, dass Kreativität in erster Linie eine anthropologische Fähigkeit ist, während sich Digitalität eng mit Technologien verbindet. Kreativität erfordert menschliche Intelligenz, während Digitalität auf Algorithmen, Programmierung und Hardware basiert. Menschen können kreativ sein, indem sie ihre eigenen Ideen entwickeln, während Digitalität darauf angewiesen ist, dass Menschen Technologie nutzen, um Aufgaben zu erledigen oder Informationen zu verarbeiten. Kreativität ist somit subjektiv, während Digitalität auf objektiven Daten basiert. Ein Kunstwerk kann für eine Person kreativ sein, während es für eine andere Person weniger beeindruckend ist. Im Gegensatz dazu basiert Digitalität auf quantifizierbaren Daten und Fakten. In der digitalen Welt lässt sich der Erfolg einer Website anhand von Klickzahlen, Likes und Shares messen. Insgesamt sind Kreativität und Digitalität zwei unterschiedliche Konzepte, auch wenn sie miteinander interagieren können. Entsprechend fehlt es der KI noch an menschlichem Bewusstsein und emotionaler Intelligenz, die für kreative Prozesse erforderlich sind. KI basiert auf Algorithmen und Daten, die von Menschen erstellt und eingespeist werden. Mittlerweile kann KI allerdings Texte, Bilder oder Filme durch Algorithmen und maschinelles Lernen erzeugen, indem sie Daten analysiert und Muster erkennt, die bereits vorhanden sind. Auch gibt es mittlerweile spezielle Programme und Tools, die KI nutzen, um Musik zu komponieren und «neue» Stücke oder Arrangements von bekannten Songs zu erstellen. Diese KIs nutzen Algorithmen des maschinellen Lernens, um Muster in vorhandener Musik zu erkennen und daraus neue Werke zu generieren. Sie bieten Musikern und Kreativen neue Möglichkeiten zur Inspiration und Zusammenarbeit. «OpenAI’s MuseNet» ist zum Beispiel eine KI, die Musik in verschiedenen Stilen und Genres komponieren kann, basierend auf einem Korpus menschlicher Musik. «Amper Music» ist eine KI-gestützte Plattform, die Musikkompositionen und -produktionen auf Basis von Benutzereingaben erstellt, während «AIVA (Artificial Intelligence Virtual Artist)» sogenannt klassische Musikstücke zu komponieren vermag. All diese KIs nutzen Algorithmen, also genaue, eindeutige und endliche Abfolgen von Anweisungen oder Regeln, die systematisch angewendet werden, um Strukturen in vorhandenen Klangfarben zu erkennen und Neues hervorzubringen.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

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Andrei Tarkovsky: «Nostalghia»