DAS KASSANDRA-SYNDROM
«Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blass, auch wütend, ich kenn es von mir selbst. Und dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem Übrigen, alle gleich», heisst es im Literaturklassiker «Kassandra», der Erzählung der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf, die, 1983 gleichzeitig in der DDR und der Bundesrepublik erschienenen, die Ereignisse des Trojanischen Krieges aus der Perspektive der Königstochter und Seherin Kassandra gestaltet. Mit dem antiken Stoff ist die DDR-Gegenwart der Autorin Christa Wolf verflochten: Ob es um den Aufbau eines Spitzelsystems, um das Wettrüsten oder um Kriegspropaganda geht, stets schimmert der Ost-West-Konflikt durch. Um im ideologischen Wettstreit mit den Griechen (BRD) zu bestehen, nimmt das einst idealistische Troja (DDR) immer mehr die Züge des Feindes an und verkommt schliesslich selbst zum imperialistischen Überwachungsstaat. Darüber hat zuletzt der amerikanische Aussenminister J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz am letzten Freitag, den 14. Februar 2025, gesprochen. «Ich war erstaunt, dass ein ehemaliger EU-Kommissar kürzlich im Fernsehen seine Freude darüber zum Ausdruck brachte, dass die rumänische Regierung gerade eine ganze Wahl annulliert hatte. Er warnte, dass, wenn die Dinge nicht nach Plan verlaufen, genau dasselbe auch in Deutschland passieren könnte. Diese unbekümmerten Äusserungen sind für amerikanische Ohren schockierend. Seit Jahren wird uns gesagt, dass alles, was wir finanzieren und unterstützen, im Namen unserer gemeinsamen demokratischen Werte geschieht. Alles, von unserer Ukraine-Politik bis hin zur digitalen Zensur, wird als Verteidigung der Demokratie deklariert. Aber wenn wir sehen, dass europäische Gerichte Wahlen annullieren und hochrangige Beamte damit drohen, weitere zu annullieren, sollten wir uns fragen, ob wir uns an einen angemessen hohen Standard halten.» Die eigentliche Warnung oder Drohung, je nachdem die Akzente gesetzt werden, lautete zum Schluss: «Wenn Sie aus Angst vor Ihren eigenen Wählern handeln, kann Amerika nichts für Sie tun.» Ob diese Warnung oder Drohung ernst genommen wird, zeigt die Zukunft. Am Vorabend der Bundestagswahl 2025 scheint die «Brandmauer» der Altparteien zur AfD stabil. Hierfür spricht auch, dass in Deutschland jene, die auf die Strasse gehen, um für den Erhalt der Brandmauer zu demonstrieren, von Altparteien finanziell begünstigt werden.
Das Kassandra-Syndrom bezeichnet eine psychologische Reaktion, bei der einer Person, die die Wahrheit oder die bevorstehenden Gefahren erkennt und vor ihnen warnt, von anderen nicht geglaubt oder ignoriert wird. Ob der Untergang der Titanic, der Brand von Notre Dame, die Verbreitung des Covid-19-Virus, die Balkankriege oder der Völkermord von Ruanda, die Flüchtlingskrise, der Ukrainekrieg, privates oder kollektives Scheitern: all diesen Ereignissen liegt dasselbe Muster zugrunde. Alle hätten vermieden werden können, wenn man genauer hingeschaut und schneller reagiert hätte. Alle diese Tragödien oder Katastrophen wurden durch unser Versagen ermöglicht. Die Verantwortung liegt bei uns; wir selbst sind die Akteure unsers Schicksals. Wir sind es, die Verhängnisse stoppen könnten, würden wir uns ganz auf das jeweilige Geschehen einlassen, statt Bilder von dem, was wir sehen wollen, anzustarren. Wahrnehmungsforscher zeigen, dass sich unser Gehirn um der Effizienz willen stark darauf programmiert hat, in Sekunden Wesentliches von vermeintlich Unwesentlichem zu trennen und alle Hintergrundgeräusche auszufiltern. Was im Alltag nützlich ist, um auf der Spur zu bleiben, kann sich in Krisensituationen als verhängnisvoll erweisen. Oft sind die ersten, für das weitere Geschehen entscheidenden Warnhinweise und Signale leise und kaum wahrnehmbar So wurde zum Beispiel ein winziger, verräterischer Rauchfaden auf dem Dach von Notre Dame übersehen. Aber auch im Fall deutlich erkennbarer Signale verfügen wir über erstaunliche Fähigkeiten des Ausblendens. Weder Treibeisschollen noch Eisbergwarnungen vermochten die Titanic von ihrem Kurs abzubringen.
Nach wie vor beherrscht das «Kassandra-Syndrom» unseren Alltag und diejenigen, die Warnungen aussprechen, werden diffamiert und leben gefährlich. Nicht nur Whistleblower wie Edward Snowden, die man als Verräter und Nestbeschmutzer beschimpft. Anerkannte Persönlichkeiten und Parteien werden in dem Moment zu Problemfällen, wenn sie die Stimme gegen das Kartell des Verschweigens erheben. Unerwünschte Wahrheiten haben lange keine Chance auf Gehör und deshalb geschieht dann all das, was uns im Nachhinein immer tief «betroffen» und von «Unbegreiflichem» schwadronieren lässt. Erst dichten wir unsere Wahrnehmung gegen die Wirklichkeit ab, weil nicht sein darf, was nicht sein soll. Dann beobachten und sondieren wir. Dann sind wir wieder einmal fassungslos. Nachher sind wir wieder tief «betroffen» und schwadronieren von «Unbegreiflichem».
Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich
Bild:
Anthony Frederick Augustus Sandys
Cassandra, 1885
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