DAS WORT DER STUNDE

Kennst Du das Wort der Stunde? Es heisst «KLIMANEUTRAL». Wer heute etwas auf sich hält, egal ob aus Wirtschaft oder Politik, trägt das Wort im Wappen. Viele der Akteure drücken sich indessen um eine genauere Definition, und zwar aus verständlichen Gründen. So würde zum Beispiel eine klimaneutrale Wirtschaft genau so viel CO2 emittieren, wie von ihr wieder aufgenommen wird – zum Beispiel durch Pflanzen. Dass selbst Wein, Kaffeekapseln, Transportunternehmen oder Internet-Dienstleister mit dem Ausdruck «klimaneutral» beworben werden, muss einem zu denken geben. Im Grunde wird hier nämlich Schindluder mit dem Begriff getrieben, zum Schaden einer klimapolitischen Diskussion. Natürlich ist Klimaneutralität heute en vogue, auch wenn in der Regel irreführendes Marketing mit sogenannter CO2-Kompensation dahintersteckt, das dem Klima wenig nützt. Wer es ernst meint, sucht nach anderen Lösungen!

Grünes Heizöl? Ja, das gibt es – glaubt man der Werbung von TOTAL. Als Betreiber einer Ölheizung könne man «besondere Verantwortung für den Klimaschutz» übernehmen, heisst es auf der Internetseite des viertgrössten Ölkonzerns der Welt. Wie? Durch den Kauf von «klimaneutralem» Heizöl, natürlich.

Hinter dem Euphemismus «klimaneutral» steht ein Konzept, das lange ein Nischendasein fristete, inzwischen aber zentraler Bestandteil von sogenannten Netto-Null-Zielen vieler Konzerne ist und oft auch von deren Produktwerbung: die CO2-Kompensation. So ist in Deutschland vielen das Prinzip durch die Non-Profit-Organisation Atmosfair bekannt, bei der Flugreisende ihren ökologischen Fussabdruck durch eine Spende an Klimaschutzprojekte verkleinern können. Nun wollen immer mehr Unternehmen diese Möglichkeit nutzen, um ihre Ökobilanz aufzuhübschen und sich klimaneutral, sogenannt «net zero», zu rechnen.

Im Grunde ist «klimaneutral» ein Schulbeispiel für eine Verballhornung und bezeichnet als Phänomen innerhalb der morphologischen Sprachwissenschaft die absichtliche oder unbewusste Neubildung bekannter oder unbekannter Wörter und Redewendungen.

Eine andere gängige Verballhornung ist der Ausdruck «unkaputtbar». In den 90er-Jahren verbreitete Coca-Cola das Wort zur Einführung der ersten PET-Mehrweg-Flasche. Und obwohl – oder gerade weil – die Aussage nachweislich falsch ist, ist auch das Wort selbst kaum kaputt zu kriegen. Muttersprachler merken sofort, dass da irgendwas nicht stimmt. Adjektive können eigentlich nicht mit dem Suffix -bar kombiniert werden. Das geht nur mit Verben; korrekt wäre also «unkaputtmachbar».

Euphemismen in der Alltagssprache sollen also bestimmte Dinge, Tätigkeiten und Menschen aufwerten. Dies geschieht etwa, wenn sich ein «Altersheim» als «Seniorenresidenz» bezeichnet. Die «Putzfrau» wird zur «Raumpflegerin», der «Hauswart» zum «Facility Manager», die «Beitragserhöhung» zur «Beitragsanpassung». Und ein «schwerer Schaden bei einer militärischen Aktion» wird kurzerhand zum «Kollateralschaden» erklärt.

Werbetexte vermeiden naturgemäss angstbesetzte Themen und beschreiben die Ware positiv. Deshalb ist das Stilmittel Euphemismus hier besonders verbreitet. So ist in der Sprache der Werbung für Deodorant grundsätzlich von «Transpiration» die Rede und nicht davon, dass jemand schwitzt.

(Eng verwandt mit dem Euphemismus ist ein anderes sprachliches Mittel: der sogenannte Dysphemismus. Oft wird er als Gegensatz bezeichnet. Dysphemistische Umschreibungen wirken ebenfalls verhüllend, aber quasi umgekehrt: Neutrale oder positive Begriffe werden durch negative oder herabsetzende Wörter ersetzt. Hier wird dann der «Obdachlose» zum «Penner», die «Sekretärin» zur «Tippse» und der «Empfänger von Arbeitslosengeld» zum «Harzer».)

Euphemismen verschleiern selbstredend Aussagen, lassen Dinge unbestimmt und machen sie ja nicht zu konkret: Dann wird verklausuliert und plötzlich unklar gesprochen oder geschrieben. Gleichzeitig entschlacken Euphemismen Aussagen, schwächen sie ab und drücken Meinungen möglichst vorsichtig aus, um sie aufzuhellen. Politisch motivierte Euphemismen nennen die «Beitragserhöhung» eine «Beitragsanpassung», definieren «Einwanderer» oder «Ausländer» als «Menschen mit Migrationshintergrund», oder «bauen zurück» anstatt «abzureissen».

Wieso das alles? Die Antwort ist ein «No Brainer».

Wir greifen zu Euphemismen, weil wir uns schützen möchten und uns zuallererst diplomatisch verhalten: Ist ein Projekt schlecht gelaufen, sprechen wir von nicht optimal oder unglücklichen Umständen. Möchten wir dem Gesprächspartner nicht gleich das Problem aufbinden, nennen wir es Herausforderung. Und ist ein Produkt teuer, argumentieren wir mit kostenintensiven und hochpreisigen Posten in der Produktion.

Geht das gut?

Das alles funktioniert zweifelsohne. Wer jedoch ständig «um den heissen Brei herumredet», wird irgendwann zu klaren Aussagen gezwungen. Wer Euphemismen überstrapaziert, dem werden sie schnell enttarnt. Die Folge? Gesprächspartner dekodieren beschönigende Wörter und Ausdrücke, und die eigentliche Absicht, schönzureden, kommt plötzlich gar nicht mehr an. Im Gegenteil – oder anders gesagt: Es findet ein Bedeutungsübertrag statt: Positiv gefärbte Begriffe werden negativ assoziiert, ihre eigentliche Bedeutung kommt schnell durch.

Im Vier-Augen-Gespräch unter Kollegen ist das noch gar nicht so schlimm. Der Tischnachbar wird höflich zurechtgewiesen bzw. wird schon verstehen, von nun an Klartext zu reden. Was aber, wenn Werbung plötzlich «auffliegt»? Wenn Kunden den mahnenden Zeigefinger heben und sich das im Prospekt beschriebene, nicht so grosse Haus als kleines Eckhaus entpuppt? Wenn Gebrauchsspuren am PKW plötzlich tiefe Kratzer sind?

Produkte oder Dienstleistungen wird man nur einmal «hochschreiben» können. Danach kommt meist der tiefe Fall. Um es klarzustellen: Mangelhafte Produkte werden von Kunden auch als solche entlarvt – dann bleibt es bei Einmalkäufen, der Text wirkt hier nur ein einziges Mal. Die Rostlaube geht nicht als schnittiger Sportwagen durch. Viel glaubwürdiger und ehrlicher: Ein ausgedientes (und nicht mehr fahrtüchtiges Auto) als Ersatzteillager für Hobbyschrauber oder als Bastlerfahrzeug zu verkaufen. Natürlich: Streng genommen auch ein Euphemismus, der aber gleichzeitig Nutzen für die Zielgruppe ankündigt. Und das wird einem niemand krummnehmen.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Randa Abdel Hamid