DER HYPE UMS #GYMNASIUM

Dass Abertausende Schweizer Teenager nicht richtig lesen und schreiben können, ist in der Schweiz weder in den Medien noch in der Politik ein Thema. Erst wenn zum Beispiel eine neue Pisa-Studie erscheint, ist das einschläfernde Mantra der eidgenössischen Schulbürokratie zu vernehmen, das da lautet: Jugendliche haben immer öfter Probleme beim Lesen und Schreiben. Im Gegensatz dazu steht der Hype ums Gymnasium, dessen Selektionskriterien vehement diskutiert werden. Und wie reagieren die Eltern? Sind sie besonders ambitioniert, schicken sie ihre Kinder in eine Lese- und Rechtschreibförderung wie unlängst die Mutter eines Privatschülers von mir. Weder der Hinweis, dass ich mir nicht sicher sei, ob in Zukunft die Orthografie weiterhin eine entscheidendes Selektionskriterium darstelle, noch dass sich eine sogenannte «Legasthenie» in der Regel nicht mit einem psychologischen Test in 60 Minuten feststellen lasse, konnte die Mutter beruhigen. Auch den Einwand, dass mit der Diagnose «Legasthenie» oft mehr Schaden angerichtet werde, wollte sie nicht gelten lassen. Schliesslich sollte ihr Sohn ins Gymnasium, und hierfür musste er als erstes die Aufnahmeprüfung bestehen. Was nachher kommt, interessierte sie nicht. Dass der Schreiberwerb für viele auch früher nicht einfach war, zeigt sich am Beispiel von Ludwig Wittgensteins «Wörterbuch für Volksschulen», das er 1923 während seiner Zeit als Lehrer in Trattenbach begann und 1926 fertigstellte.

Bekanntlich glaubte Wittgenstein, mit der Veröffentlichung der «Logisch-philosophischen Abhandlung» seinen Beitrag für die Philosophie geleistet zu haben, und wandte sich anderen Tätigkeiten zu. Noch während der Kriegsgefangenschaft in Italien entschied er sich, vermutlich unter dem Einfluss von Leo Tolstois «Auferstehung», für den Beruf des Lehrers. Nach dem Besuch der Lehrerbildungsanstalt in Wien, wurde er für einige Jahre Volksschullehrer «in einem der kleinsten Dörfer, es heißt Trattenbach und liegt etwa eine Stunde südlich von Wien im Gebirge», wie er in einem Brief an Bertrand Russell schreibt. In pädagogischer Hinsicht unzufrieden, wechselte er nach zwei Jahren in das Dorf Puchberg, wo wie zuvor in Trattenbach immer wieder Spannungen zwischen Wittgenstein und den Eltern seiner Schüler auftraten. Binnen zweier Jahre wechselte Wittgenstein erneut die Stelle und wurde Lehrer in Otterthal, wo er das für die Zeit fortschrittliche «Wörterbuch für Volksschulen» abschloss und herausgab.

«Das vorliegende Wörterbuch», heisst es im Geleitwort, «soll einem dringenden Bedürfnis des gegenwärtigen Rechtschreibunterrichtes abhelfen. Es ist aus der Praxis des Verfassers hervorgegangen: Um die Rechtschreibung seiner Klasse zu bessern, schien es dem Verfasser notwendig, seine Schüler mit Wörterbüchern zu versehen, um sie in den Stand zu setzen, sich jederzeit über die Schreibung eines Wortes zu unterrichten; und zwar, erstens, auf möglichst rasche Weise, zweitens aber auf eine Weise, die es möglich macht sich das gesuchte Wort dauernd einzuprägen. Hauptsächlich beim Schreiben und Verbessern der Aufsätze wird die Schreibung der Wörter dem Schüler zur interessanten und dringenden Frage. Das häufige Befragen des Lehrers oder der Mitschüler stört die Mitschüler bei ihrer Arbeit, leistet auch einer gewissen Denkfaulheit Vorschub und die Information durch den Mitschüler ist überdies häufig falsch. Außerdem aber hinterläßt die mündliche Mitteilung einen viel schwächeren Eindruck im Gedächtnis als das gesehene Wort. Nur das Wörterbuch macht es möglich, den Schüler für die Rechtschreibung seiner Arbeit voll verantwortlich zu machen, denn es gibt ihm ein sicheres Mittel seine Fehler zu finden und zu verbessern, wenn er nur will.» Interessant ist im Weitern die Tatsache, dass für Wittgenstein kein Wort zu einfach ist, um aufgenommen zu werden, denn er habe erlebt, dass «wo» mit Dehnungs-h und «was» mit ss geschrieben wurde. «Als dieses Wörterbüchlein nach mehrmonatlicher Arbeit fertig war», schreibt er zum Schluss, «zeigte es sich, daß die Arbeit der Mühe wert gewesen war, denn die Besserung in der Rechtschreibung war erstaunlich. Das orthographische Gewissen war geweckt worden.» So geht es also auch, vorausgesetzt die Schüler werden der Schrift auch wirklich ausgesetzt. Wenn sie nie Diktate oder Aufsätze schreiben oder, was noch schlimmer ist, wenn der Erwerb der Schriftsprache falsch aufgesetzt wird, weil jeder und jede während Jahren so schreiben kann, wie er oder sie will, so dass sich Fehler einschleichen, die sich nur schwer korrigieren lassen, vermag auch ein noch so erfahrener Sprachtherapeut nur wenig auszurichten.

Um sich zuletzt nicht in den Chor jener einzureihen, die den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören, will ich noch auf einen anderen Schüler hinweisen, der mir aussergewöhnlich begabt erscheint. Nicht nur hat er eine Klasse übersprungen und vermag bereits jetzt alle Mathematikaufgaben früherer Aufnahmeprüfungen zu lösen, nein, er scheibt auch fast fehlerfreie Aufsätze. Gesetzt den Fall, beide Privatschüler bestehen die Aufnahmeprüfung, bestätigt sich für mich, dass die Gymnasien schon lange keine Eliteschulen mehr sind, nicht einmal mehr Schulen für die Besten, sondern allenfalls Bildungsinstitutionen für sogenannt gute Schüler.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich