DIE GRENZEN DER WELT

«1 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. 2 Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. 3 Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. 4 Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis 5 und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.» So der Anfang der Schöpfungsgeschichte, revidiert 2017, in der Übersetzung der Bibel nach Martin Luther.

In diesen Worten erhalten wir ein bestimmtes Bild vom Wesen der Sprache. Die Wörter der Sprache schaffen die Welt. Hier finden wir auch die Wurzel der Wittgensteinschen Vorstellung aus dem «Tractatus logico-philosophicus», die, oft zitiert, lautet: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» Der Satz drückt die Vorstellung aus, dass unsere Sprache die Grenzen dessen definiert, was wir verstehen und was für uns existiert. Mit anderen Worten, die Fähigkeit, über etwas nachzudenken oder es zu verstehen, hängt wesentlich von unserer Sprache ab. Wenn wir keine Worte haben, um ein Konzept auszudrücken, können wir es auch nicht wirklich verstehen oder darüber nachdenken. In dieser Hinsicht begrenzt unsere Sprache unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Welt. Dieser Annahme nach ist die Sprache entscheidend dafür, in welchem Masse wir die Welt erfassen – sei es auf kultureller, naturwissenschaftlicher oder philosophischer Ebene.

Im Deutschen zum Beispiel bezeichnen wir jede Art gefrorenen Wassers in kristalliner Form, ob es nun gerade fällt, flockig ist oder taut, als «Schnee». Im Gegensatz dazu verwenden die Inuit einen Wortstamm für fallenden und einen sich davon unterscheidenden für liegenden Schnee. Hierbei zeigt sich die unterschiedliche Bedeutung des Schnees in der Sprache: Für Mitteleuropäer ist es nicht zwingend nötig, schon im Aussprechen des Wortstammes zu erfahren, ob der Schnee fällt oder nicht. Für Inuit hingegen hat dies eine wesentlich höhere Bedeutung, da von diesen Witterungsverhältnissen ihr Jagderfolg abhängt. Gelangt man von der Verallgemeinerung der Welt durch die Sprache zum Ergebnis, dass wir gerade durch sie eine Grenze ziehen, über die wir nicht hinauskommen können, setzen wir naturgemäss voraus, dass es kein aussersprachliches Denken gibt, wie auch, dass «Sprache» und «Denken» sich wechselseitig bedingen. Metaphorisch gesprochen, ist die Sprache das Vehikel des Denkens.

So betrachtet, gibt es nichts ausserhalb der Sprache, ein Umstand, der uns immer dann bewusst wird, wenn wir jemandem einen grammatischen Sachverhalt erklären. Gesetzt den Fall, ein Schüler soll «Wortarten» oder «Satzglieder» lernen, muss ihm dies der Lehrer seinerseits in der Sprache erklären. Gleiches gilt bei der Besprechung eines Aufsatzes. Warum Aufbau und Folgerichtigkeit des Textes keinen Sinn ergeben, kann der Lehrer dem Schüler lediglich sprachlich verständlich machen. Beide, Lehrer wie auch Schüler, kommen gar nie aus der Sprache heraus. Bildlich ausgedrückt, können sie eben nicht auf dem Sprungturm stehen und auf das Wasser hinuntersehen, sondern immer nur im Wasser schwimmen.

Die Kraft der Sprache, Vorstellungen zu schaffen, fiktive Erzählungen hervorzubringen und unsere Sicht auf die Welt zu lenken, zeigt sich andererseits auch in den Anfangssätzen des Johannesevangeliums im Neuen Testament, genauer gesagt im ersten Kapitel, den Versen 1 bis 3. Sie sind Teil der Einleitung des Evangeliums und stellen einen wichtigen theologischen Gedanken dar. «1Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 2Dasselbe war im Anfang bei Gott. 3Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.» So die Luther-Übersetzung des Lateinischen «In principio erat Verbum, et Verbum erat apud Deum, et Deus erat Verbum.»

Der Text deutet darauf hin, dass das Wort, im Sinne von «Logos», seit Anbeginn der Zeit existiert. So verstanden, ist das Wort eine Manifestation Gottes selbst oder eine Eigenschaft Gottes, durch die er handelt: und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. Die Sätze unterstreichen also die absolute Bedeutung des Wortes bei der Schöpfung der Welt. Demgegenüber demonstrieren uns Zahlen die Macht der digitalen Transformation im Kontext eines fortlaufenden, tiefgreifenden Veränderungsprozesses in Wirtschaft und Gesellschaft. Zusammengefasst dienen Buchstaben der sprachlichen Kommunikation und Kreativität, während Zahlen vorrangig für quantitative Bewertungen und logische Operationen verwendet werden. Beide Systeme sind essenziell für Kommunikation, Wissenschaft und Kunst.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Fountain of Saint John the Evangelist