DIE KUNST DES WEGLASSENS

Das iPad ist ein Tablet des Soft- und Hardware-Herstellers APPLE. Es besteht nur aus einem schwarzen Glasbildschirm, es ist etwa sechs Zentimeter kürzer und zwei Zentimeter schmaler als eine DIN-A4-Seite. Es ist dünn, sehr dünn. Es wiegt ungefähr 700 Gramm. Und, um es gleich zu sagen: Es ist die Zukunft. Punkt. Es gibt darüber gar keine Diskussion. Auch der Architekt Ludwig Mies van der Rohe erklärte: «Less is more.» Und das Vorbild von Jonathan Ive, dem Designdirektor von APPLE, ist Dieter Rams, der legendäre Gestalter der Produkte von BRAUN, bevor die Firma anfing, die fürchterlich hässlichen Rasierer von heute zu fabrizieren. – Das iPad ist die Krönung in dieser Disziplin. Es ist so einfach, dass es ein Dreijähriger bedienen kann. Es erklärt sich selbst. Und es tut das so vollständig, dass es noch nicht einmal mit einer Betriebsanleitung ausgeliefert wird. Das iPad hat unsere Welt verändert. Es hat sie so verändert, wie der iPOD die Musikbranche. Einer der Vorläufer ästhetischer Reduktion ist sicher der Österreicher Ludwig Wittgenstein. Sowohl das für die Schwester entworfene «Stonborough House» in Wien wie auch der zuvor verfasste «Tractatus logico-philosophicus« zeichnen sich aus durch eine konsequente Reduktion der Form auf das Wesentliche. Ziel seiner architektonischen Arbeit war nicht allgemeiner gesellschaftlicher Nutzen, sondern er strebte nach intellektueller und psychischer Reinheit. Rückblickend schrieb Wittgenstein:

«Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr eine Arbeit an einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht (Und was man von ihnen verlangt).»

Darum kann es nicht verwundern, dass Wittgensteins Formulierungen im «Tractatus« dicht und gedrängt sind; seine Sprache ist prägnant, klar, also ohne jede Umschweife. Inmitten nüchterner Analysen und logischer Formeln finden sich zwar hin und wieder Metaphern oder wuchtige, mit Leidenschaft vorgetragene Sätze über die «Welt» und die «Sprache», doch bleibt als Gesamteindruck ein Stil von absoluter «Kategorizität». Wenn Du willst, so kannst Du Dich in diesem Zusammenhang auch an die französische Modedesignerin Coco Chanel halten, der zufolge Lebenskunst in der «Kunst des richtigen Weglassens» besteht.

Novizen oder Einsteiger haben es oft schwer, erste schriftliche Arbeiten für die Universität zu schreiben, da, wie sie sich denken, beim wissenschaftlichen Schreiben die Trauben scheinbar besonders hoch hängen: Stil, Präzision, Textumfang und vieles mehr können Furcht einflössen. Die gelesenen Texte aus dem Wissenschaftsbetrieb mit ihrer Komplexität tun ihr Übriges. Nicht nur die Wahl des Themas und des Betreuers, sondern vor allem das Schreiben selbst sorgt für Belastungen und Stress. Schreibblockaden lauern zwischen unzähligen Seiten Literatur und verunmöglichen nicht selten ein zügiges Vorankommen. Plötzlich ist nichts mehr, wie es vorher war. Die Arbeit rückt in weite Ferne und der Kandidat droht zu scheitern. Die Arbeit wächst von Tag zu Tag und scheint sich in ein Werk für Titanen zu verwandeln, an dem man nur scheitern kann. Das Problem: Man hat weder einen Plan noch eine Strategie. Man steht tagelang unten an der Bergwand, anstatt endlich den Einstieg zu wagen und sich den Problemen auf dem Weg zum Gipfel zu stellen. Natürlich hat man Angst zu versagen, ein Versagen, das sich jedoch, je länger man wartet, nur weiter verschlimmert. Das Leben wird immer monotoner; der Student gleicht dem Violoncello, das nicht spielt, wenn der Bogen des Künstlers es nicht berührt. Nicht selten gehen so kostbare Jahre verloren, und schlimmstenfalls verlässt man aus eigenen Stücken als Studienabbrecher die Universität.

Damit es erst gar nicht so weit kommt, soll Dir meine Empfehlung, es einmal mit der Kunst des Weglassens zu versuchen, helfen, damit Deine Texte wieder Wind unter die Segel kriegen. – Der Kunst des Weglassens kommt nämlich auch in der Wissenschaft besondere Bedeutung zu. Nicht selten mangelt es wissenschaftlichen Arbeiten (von der Hausarbeit bis zur Dissertation) am nötigen Zuschnitt, also an der Eingrenzung des Themas. Weil der (eigene) Anspruch hoch ist, kann es schnell passieren, dass der Modus «viel hilft viel» greift und die Texte mit Wissen und Erkenntnissen überfrachtet werden, die bestenfalls am Rande zum Thema gehören. Dies kann dazu führen, dass das Erkenntnisinteresse bzw. die Fragestellung dezentriert wird und sogenannte «Textteppiche» ohne roten Faden entstehen. Der Ausspruch «Weniger ist mehr» gilt auch hier. So schwer es Dir fallen mag, ein guter wissenschaftlicher Text kreist konsequent um seinen Gegenstand und bezieht nur das ein, was zur Beantwortung der Fragestellung nötig ist. So betrachtet, gilt wohl auch für Texte, was für die meisten Reden zutrifft: SIE SIND ZU LANG.

Bild: Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch
«Das schwarze Quadrat, 1915», Tretjakow-Galerie, Moskau

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich