DIE WELT IST MEINE VORSTELLUNG

Das Osterereignis, wie wir es kennen, wurzelt im biblischen Kanon, welcher durch die vier Evangelien des Neuen Testaments fixiert wird. Judas verrät den «Menschensohn», der den Tempelpriestern und Schriftgelehrten ein Dorn im Auge war. Er wird an die Römer ausgeliefert, zum Tode verurteilt und gekreuzigt. Jesus ist das «Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt» (Joh. 1,29). Nachdem Jesus, wie es heisst, am dritten Tag von den Toten auferstanden und in den Himmel, zu Gottvater, «aufgefahren» ist, beginnt die Zeit des Wartens. Sie gilt der Niederwerfung aller Feinde des Glaubens, namentlich des römischen Imperiums. Hier nun dominiert eine visionäre Dialektik der Rache und der Errettung, wie sie die Offenbarung des Johannes ausmalt: Nach einer tausendjährigen Herrschaft des Satans, nach den apokalyptischen Plagen und endzeitlichen Schlachten wird ein neues Jerusalem vom Himmel herabsinken und den Jesus-Treuen ein ewiges Leben im Licht Gottes gewähren.

Der kürzlich verstorbene Ägyptologe Jan Assmann verwies in diesem Zusammenhang auf die Konsequenzen der Ablösung des Vielgötterglaubens durch den jüdischen Monotheismus. Dessen Anhänger liessen nur eine Wahrheit gelten, die sie absolut setzten; dem entsprach die Dogmatisierung einer Lesart der Bibel. Die zentralen religiösen Ereignisse – zu denen auch das Osterfest gehört – sind demnach nicht bloss die Folge einer Epochen überdauernden Tradition, sondern darüber hinaus das Ergebnis der autoritativen Aussonderung alternativer «Narrative». Unter dieser Voraussetzung sind auch Religionen als Narrative zu betrachten, die komplexe Überzeugungen und Lehren umfassen, um die Identität und Weltanschauung von Gläubigen zu prägen. Diese Narrative bieten Erklärungen für die Existenz, Moral und das menschliche Schicksal. Sie fungieren als Erzählungen, die soziale Ordnung schaffen und Gemeinschaften vereinen. Darüber hinaus dienen religiöse Überzeugungen und Geschichten als Rahmen für das individuelle und kollektive Verständnis der Welt. Anders geht es wohl auch gar nicht. Schliesslich müssen wir uns die Welt zu eigen machen, um uns in ihr zurechtzufinden. Zum Beispiel denken wir uns die Dinge in einer Reihenfolge: Etwas kommt vorher, etwas anders nachher, etwas ist rechts oder links, oben oder unten. Alles nur Konventionen, im Universum existiert so etwas nicht. Aber um eine Erzählung zu konstruieren, muss man irgendwo beginnen.

Gemäss der biblischen Erzählung im Buch Genesis werden Adam und Eva im Garten Eden von Gott erschaffen und leben dort im Paradies. Der Sündenfall ereignet sich, als sie von der verbotenen Frucht essen, die von der Schlange angeboten wird, trotz Gottes Gebot, dies nicht zu tun. Als Strafe für ihren Ungehorsam werden Adam und Eva aus dem Garten vertrieben und der Zugang zum Baum des Lebens wird ihnen versperrt, was ihre Sterblichkeit begründet. Diese Geschichte markiert den Beginn der menschlichen Geschichte ausserhalb des Paradieses und symbolisiert den Verlust der Unschuld und die Einführung von Sünde und Leid in die Welt. Ostern feiert dann die Menschwerdung Gottes, also die Auferstehung Jesu Christi und symbolisiert die Hoffnung auf ewiges Leben. Die Heilsgeschichte als Narrativ hat unsere westlich orientierte Kultur seit mehr als 2000 Jahren geprägt.

Freilich ist diese Erzählung seit der Postmoderne in die Krise geraten. Unvermittelt zeigt sich, dass alle Narrative, Narrationen, Imaginationen oder eben bloss Erzählungen nichts Unveränderliches sind und es immer einen Kampf solcher Erzählungen gibt. Früher galten diese Grosserzählungen nicht als Narrativ, sondern als Norm. In der pluralistischen Gesellschaft werden sie abgelöst von Mikro-Narrativen: Jede Identität hat ihr eigenes Narrativ, gerade im Zeitalter Sozialer Medien. Ein Grossnarrativ, das lange Zeit nicht bezweifelt wurde, waren die Begriffe «Mann» und «Frau». Dass es einfach Mann und Frau gibt. Wenn jetzt non-binäre Identitäten geschafft werden, gibt es unvermittelt Mikronarrative, die bekannte Grossnarrative in Frage stellen. Würden wir tatsächlich das Narrativ verlieren, wäre auch die kohärente und sinnstiftende Erzählung, die eine Gruppe oder Kultur bestimmt, nicht mehr vorhanden. Dies könnte bedeuten, dass die gemeinsame Geschichte, die Identität oder der Glaube einer Gruppe in Frage gestellt oder verloren gegangen ist.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Giovanni Battista Recco
Das Gemälde ist eine Allegorie auf Ostern und stellt die zentrale Botschaft des Festes durch die traditionellen Symbole dar: ein gebündeltes Lamm und einen Korb mit weissen Eiern.