DU BIST DIE AUFGABE. KEIN SCHÜLER WEIT UND BREIT. – 1. TEIL

Wir leben in unsicheren Zeiten. Gestern noch geltende Gewissheiten scheinen zu schwinden. Komplexe Verschränkungen unterschiedlicher Krisen erschweren das Leben auf eine Weise, die es zuvor nicht gab. Gleichzeitig wächst der Zeitdruck, all die Probleme gut und schnell zu lösen, auch wenn traditionelle Gewissheiten immer löchriger werden. Die Skepsis nimmt zu. Wo sind eigentlich die Grenzen des Skeptizismus und was kann überhaupt noch gewiss sein? Gibt es so etwas wie ein sicheres Fundament der Erkenntnis, oder leben wir mit «unsicheren Gewissheiten»? Ludwig Wittgenstein unternahm kurz vor seinem Tod noch einmal den Versuch, das zu erkunden, was sich nicht infrage stellen lässt. Er wollte etwas im wahrsten Sinne des Wortes festmachen, damit der Zweifel endlich zur Ruhe kommt. Wie vor ihm René Descartes und David Hume versuchte er, die klaren Annahmen theoretischer Grundsätze in lebendige Gewissheiten zu überführen. Da wir diese praktischen Gewissheiten als Hintergrund allen Handelns aufnehmen und aktivieren, bleiben sie stets ein unsicheres Fundament und können in persönlichen und sozialen Krisen wieder in Zweifel gezogen werden. Aktuelle gesellschaftliche Probleme lassen sich also als Herausforderungen begreifen, mit «unsicheren Gewissheiten» zu leben. Ganz im Sinne des Kafka’schen Aphorismus «Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.» Wir müssen die Aufgabe meistern, für die es kein konkretes Beispiel gibt. Die Aufgabe ist vielmehr das ganze Leben mit seinen komplexen Verschränkungen, die es in dieser Form vorher nicht gab. Wo aber ist der berühmte «archimedische Punkt» ausserhalb der Versuchsanordnung, der uns als neutraler Angelpunkt dienen könnte, als sicheres Fundament, die Unwägbarkeiten unserer Gegenwart zu bewältigen?

Für René Descartes zum Beispiel, Mitbegründer des philosophischen Rationalismus, bildete die Aussage COGITO, ERGO SUM aus seinem autobiografisch gefärbten «Discours de la méthode», einer Untersuchung über das menschliche Wissen, eine evidente, unbezweifelbare Tatsache, mithin einen «archimedischen Punkt.» Vorausgesetzt wird dabei, dass die Existenz der Wirklichkeit dem Denken dieser Wirklichkeit vorausgeht. Gleichwohl war es ein in der Geschichte der Philosophie revolutionärer Schritt, bei der Frage, was diese Wirklichkeit denn ist, auf die erste Person Singular, also das Ich, zurückzugreifen. Formal logisch ausgedrückt, lässt sich daher festhalten:

1. Ich zweifle an allem.
2. Somit existiere ich, der an allem zweifelt.

Da die Aussage aus der Ich-Perspektive getroffen wird, gilt Descartes Satz für alle Ichs, die genau darüber nachdenken. Der Satz ist daher ein sich selbst bewahrheitender Satz (aus der Perspektive der ersten Person), der als sich selbst bewahrheitender Satz nicht bezweifelt werden kann. So formuliert, lautet das Argument von Descartes:

1. Die Aussage p ist ein sich selbst bewahrheitender Satz.
2. Der Inhalt eines sich selbst bewahrheitenden Satzes kann nicht sinnvoll bezweifelt werden.
3. Was nicht sinnvoll bezweifelt werden kann, ist dann auch notwendigerweise der Fall.
4. Also ist p notwendigerweise der Fall und kann nicht mehr mit Gründen bezweifelt werden.

Die Frage scheint nicht unberechtigt, was jetzt damit gewonnen ist. Der Philosoph und Schriftsteller Georg Steiner formuliert es so: Seit Descartes setzen wir darauf, dass alle verifizierbaren Wahrheiten im disziplinierten Selbst ihren Ursprung haben. Damit meint er, dass, um zu methodisch gesicherten Erkenntnissen zu kommen, wir zunächst DENKEN lernen müssen, das heisst, dieses muss sich selbst disziplinieren oder diszipliniert werden. Was klar und deutlich gedacht und nicht bezweifelt werden kann, muss wahr sein. Diese Methode der mathematischen Beweisführung hat Descartes auf das Erarbeiten philosophischer Erkenntnisse übertragen. Der menschliche Geist mit seinen Eigenschaften und Fähigkeiten steht dabei im Zentrum der Überlegungen. Von täuschenden Sinneseindrücken befreit, kommt er zur Einsicht der eigenen Existenz. Mit seiner strikt rationalistischen Logik hat Descartes den Zweifel zum Instrument der Erkenntnis gemacht und die kirchlich dominierte Wissenschaft seiner Zeit in die Schranken gewiesen. Ohne Zweifel: eine Sternstunde der Philosophie.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Frans Franchoisz Hals, René Descartes, 1648
Louvre Museum, Paris