DU MUSST DEIN LEBEN ÄNDERN

«Archaïscher Torso Apollos» lautet der Titel eines Gedichts von Rainer Maria Rilke. Mit den 1908 in Paris geschriebenen Versen beginnt der zweite Teil seiner «Neuen Gedichte», mit denen er sich von seiner intuitiven Lyrik der frühen Jahre abwendet, um die Dinge gleichsam selbst sprechen zu lassen und den Menschen eine unmittelbare Erfahrung der sie umgebenden Welt zu ermöglichen. Das Sonett hält die überwältigenden Eindrücke fest, die der Betrachter eines Torsos des Gottes der Dichtkunst Apollon erfährt. Mit der auffordernden Sentenz seines letzten Verses («Du musst dein Leben ändern») gehört das Gedicht zu den bekanntesten Werken Rilkes. Auch der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Peter Handke verwendet den Satz in der Erzählung «Kindergeschichte», der Beschreibung eines Erziehungsmodells durch den Vater. Handke schildert die ersten Lebensjahre seiner Tochter und die Trennung von seiner Frau. «Als das Kind ins Haus kam», schreibt er im Eingangskapitel, «schien es dem Erwachsenen, als erlebte er selber einen Rückfall in eine beengte Jugend, wo er oft ein blosser Aufpasser für die jüngeren Geschwister gewesen war. In den vergangenen Jahren waren die Kinos, die offenen Strassen, und damit das Unsesshafte ihm in Fleisch und Blut übergegegangen; nur so, meinte er auch, gäbe es den Raum für die Tagträume, in denen das Dasein als etwas Abenteuerliches und Nennenswertes erscheinen konnte. Aber hatte in all dieser Zeit der Ungebundenheit das DU MUSST DEIN LEBEN ÄNDERN nicht immer neu als ein Flammensatz gewirkt?» Demgegenüber verwendet der deutschen Philosoph Peter Sloterdijk den Satz im Titel eines 2009 erschienen Essays. «Du musst Dein Leben ändern» ist für ihn die Zusammenfassung, Verdichtung und Eindampfung aller religiösen Lehren, Übungsanleitungen und Trainings, die den Menschen daran erinnern, sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden und über sich hinauszuwachsen.

Bücher sprechen offensichtlich immer von anderen Büchern, und jede Geschichte erzählt eine längst schon vergangene Geschichte. Das wusste Homer, das wusste Ariost, ganz zu schweigen von Schiller und Goethe. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Gewicht der Vergangenheit oder den Echos der «Intertextualität». «Intertextualität» bezeichnet das Verhältnis zwischen verschiedenen Texten, in dem sie aufeinander verweisen, sich beeinflussen oder sich gegenseitig kommentieren. Dies können direkte Zitate, Anspielungen, Parodien oder andere Formen der Referenzierung sein. «Intertextualität» ermöglicht es, Texte im Kontext anderer Werke zu verstehen und zu interpretieren, da sie auf bereits existierende literarische Traditionen, Motive oder Themen zurückgreift. Mit «Intertextualität» wird in der strukturalistisch geprägten Kultur- und Literaturtheorie das Phänomen bezeichnet, dass innerhalb einer kulturellen Struktur kein Bedeutungselement, mithin kein Text, ohne Bezug zur Gesamtheit der anderen Texte denkbar ist. Es spricht nicht der Autor, sondern die Sprache.

Trotzdem scheinen Wörter dadurch manchmal ihre Unschuld zu verlieren. Der Rechtsgrundsatz «suum cuique», lateinisch für «jedem das Seine», ist bekanntlich bereits bei dem römischen Redner und Philosophen Cicero mehrfach belegt und seit Langem sprichwörtlich. Trotzdem sollte man ihn aufgrund seines Missbrauchs in Buchenwald nicht verwenden, wie auch schon Weltkonzerne wie «Nokia» und «McDonald’s» erfahren mussten, als sie den Slogan in Werbekampagnen einsetzten und nach heftigen Protesten später wieder zurückkrebsen mussten. Andererseits prangt der Ausdruck auch auf dem Landgerichtsgebäude in Halle, in dem ein deutscher Politiker wegen angeblich nationalsozialistisch geprägten Äusserungen zu einer Geldstrafe von mehreren tausend EURO gebüsst wurde. Allem Anschein nach gibt es in Deutschland Parolen, Begriffe und Symbole aus der Zeit des Nationalsozialismus, die fast jeder kennt und aus gutem Grund meidet. Ist die Rechtslage unklar, urteilen Gerichte mal so oder anders.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Archaischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

– Rainer Maria Rilke