FOLG NICHT JEDEM WEISSEN KANINCHEN!

Der Ausdruck «Rabbit Hole», englisch für Kaninchenbau, ist eine Metapher für eine Idee oder ein Thema, von dem man sich gedanklich auf Abwege führen lässt. Der Begriff bezieht sich auf das Kapitel «Down the Rabbit Hole» des Kinderbuchs «Alice im Wunderland» des britischen Schriftstellers und Mathematikers Lewis Carroll. Der 1865 erschienene Text wird zu den Klassikern der Weltliteratur gezählt. Die Zeitung «The Guardian» nahm 2009 sowohl «Alice im Wunderland» als auch «Alice hinter den Spiegeln» in die Liste der 1’000 Romane auf, die jeder gelesen haben sollte. Die fiktive Welt, in der die Geschichte angesiedelt ist, spielt in solcher Weise mit der Logik, dass sich der Text unter Mathematikern und Kindern gleichermassen grosser Beliebtheit erfreut. In der Geschichte folgt Alice einem weissen Kaninchen und fällt dabei in dessen Bau. Dieser Sturz markiert den Beginn von Alices abenteuerlicher Reise durch das Wunderland. Der Kaninchenbau repräsentiert dabei einen Übergang in eine surreale Welt, in der die Regeln der Logik und der Realität aufgehoben sind. Er symbolisiert auch Alices Eintauchen in das Unbekannte und ihre Neugierde, das Unkonventionelle zu erkunden. Aus diesem Grund wird die Metapher des Kaninchenbaus oft verwendet, um auf eine Situation hinzuweisen, in der jemand unerwartet in etwas Tieferes, Verwirrendes oder Ungewöhnliches hineingezogen wird. «I went down the Rabbit Hole», sagt zum Beispiel Michael Saylor, CEO des Unternehmens MicroStrategy, das einen signifikanten Betrag seines Kapitals in Bitcoin investiert hat, aber auch Raoul Pal, Gründer des Finanzmedienunternehmens Real Vision, bekannt für seine optimistische Einstellung zur Kryptowährung auf Grundlage eines dezentral organisierten Buchungssystems.

Heute genügt ein Wisch über den Bildschirm, um ins Wunderland zu kommen. Wer die Kurzvideo-App «TikTok» öffnet, droht in einem Strom an bewegten Bildern zu ertrinken. Mit jedem Wisch erscheint ein neuer Clip. Meist sind es alberne Scherze, Tanzeinlagen oder Musikvideos. Und meist sind sie lediglich einige wenige Sekunden lang. Dann folgt schon die nächste Szene. Und noch eine. Und noch eine. Schnell lernt der Algorithmus, was der Betrachterin oder dem Betrachter gefällt. Und serviert automatisch jene Inhalte, die besonders gefallen, und zwar ohne Ende. Wer sich diesem Sog nicht entziehen kann, fällt so wie Alice im Wunderland immer tiefer in den Kaninchenbau. Und für gewisse Menschen, Jugendliche wie Erwachsene, ist die Anziehung so stark, dass sie die Kontrolle verlieren: über ihre Zeit, ihre Konzentration, ja ihr Leben. Sie finden nicht mehr aus dem «Rabbit Hole». Die datengetriebene Welt treibt die Menschen vor sich her. Dass soziale Netzwerke wie «TikTok», «Facebook» oder «Instagram» Menschen süchtig machen, ist freilich kein Kollateralschaden. Es gehört zum Geschäftsmodell der Plattformen. Was Facebook und Co. erfunden haben, hat die App des chinesischen Unternehmens Bytedance weiter perfektioniert. Ziel ist auch hier, die User durch einen ausgeklügelten Algorithmus möglichst lange auf der Plattform zu halten. Weltweit hat «TikTok» mehr als eine Milliarde Nutzer, und unter Teenagern ist die App beliebter als «Facebook» oder «Instagram». Offenbar erkennt die Technologie bereits anhand weniger Signale, was die Nutzer interessiert. Gestützt darauf serviert die App dann automatisch ähnliche Inhalte. Und damit sich die Nutzer nicht zu schnell langweilen, streut der Algorithmus bisweilen geschickt andere Inhalte ein. Wie ein Glücksspielautomat.

Unklar bleibt, ob diese unablässigen Belohnungen die Gehirne der Nutzer dauerhaft umprogrammieren. Vielleicht so, dass es für sie schwierig wird, sich auf weniger belohnende Aufgaben zu konzentrieren. Erste Langzeitstudien haben eben erst begonnen, die Auswirkungen digitaler Medien auf die Entwicklung der Gehirne Heranwachsender zu untersuchen. Umstritten ist auch, ob die exzessive Nutzung von Online-Medien allein zu suchtartigen Symptomen führen kann. Ausserdem gibt es für problematische Internetnutzung keine allgemeingültige Definition und keine offiziellen Diagnosekriterien. Trotzdem mehren sich international die politischen Bemühungen, Social-Media-Plattformen stärker zu regulieren. In Kalifornien etwa sieht ein Gesetzesentwurf vor, dass Eltern künftig gegen die Unternehmen klagen können, wenn ihr Kind eine Social-Media-Sucht entwickelt hat. Zudem untersuchen die Justizministerien mehrerer US-Bundesstaaten, inwiefern «TikTok» die psychische Gesundheit junger Personen schädigen kann. Da «TikTok» einem chinesischen Unternehmen gehört, ist die App in den USA besonders umstritten. Ex-Präsident Donald Trump wollte sie sogar verbieten. Die Vorwürfe reichen von Spionage und Datenmissbrauch über Cybermobbing bis hin zur Verletzung der Privatsphäre von Kindern. Laut der «Washington Post» nutzt dabei der Konkurrent «Facebook» den politischen Gegenwind gezielt, indem er eine Beraterfirma beauftragte, um den Ruf von «TikTok» zu schwächen.

Nicht zu überraschen vermag in diesem Zusammenhang, dass sich international die politischen Bemühungen mehren, Social-Media-Plattformen stärker für schädliche Wirkungen verantwortlich zu machen. So plant zum Beispiel die EU, digitale Plattformen allgemein mit dem Gesetz über digitale Dienste zu regulieren. Um den Jugendschutz zu stärken, soll personalisierte Werbung für Minderjährige verboten werden. Wer will, müsste die Empfehlungs-Algorithmen künftig ausschalten können. Desgleichen würden die Plattformen verpflichtet, die Funktionsweise ihrer Algorithmen transparenter zu machen. Experten gehen freilich davon aus, dass Technologiekonzerne gegen neue Gesetze Klage einreichen mit dem Argument, dass sie gegen die verfassungsrechtlich geschützte Redefreiheit verstossen und bei Jugendlichen die Autorität der Eltern untergraben. Zwar scheinen die Gesetzgeber die Bevölkerung auf ihrer Seite zu haben, um den Einfluss von Technologieunternehmen zu reduzieren, weil diese nach allgemeiner Einschätzung «zu gross und mächtig» geworden sind. Andererseits argumentieren die Tech-Firmen, Gesetztes-Vorstösse würden Konsumentinnen und Konsumenten schwächen. Die Politik sei blind für die Bedürfnisse von Millionen Nutzern, die von den Tech-Unternehmen diverse Gratisdienstleistungen beziehen könnten. Die geplante Regulierung würde daher einen erheblichen Schaden verursachen. Darüber hinaus sind Technologien und Dienstleistungen von Unternehmen wie Google und Apple äusserst komplex, was es schwierig macht, spezifische Regulierungen zu formulieren und durchzusetzen. Schliesslich operieren diese Unternehmen weltweit und grenzüberschreitend, was die Koordination und Harmonisierung von Massnahmen erschwert. Auch können Regulierungen den Innovationsdruck beeinträchtigen, der die Unternehmen antreibt, um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben.

Wer am Schluss wie entscheidet, bleibt wohl offen, wenngleich die Konsumenten sich bislang nicht gegen Internetdienstleistungen entschieden haben, solange diese «gratis» oder «kostenlos» zu haben sind.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
The White Rabbit