HABEN MÄNNER EINE ZUKUNFT?

Emanzipationsverlierer sind heute junge Männer. Die Entwicklung der Wirtschaft tendiert seit geraumer Zeit in Richtung einer sukzessiven Schrumpfung der männlichen Industriearbeit. Seit einigen Jahren ist die männliche Arbeitslosenquote höher als die weibliche. Das alimentiert nicht gerade die Zukunftsperspektive der nachwachsenden männlichen Generation, ebenso wenig wie der immer wieder kolportierte Slogan «Die Zukunft ist weiblich». Männer sind aber nicht nur die Verlierer auf dem Arbeitsmarkt, sondern bereits dort, wo in Schulen und bei der Ausbildung auf die späteren Berufsqualifikationen vorbereitet wird. Ihre Bedürfnisse werden zunehmend ignoriert, ihre Leistungen werden schlechter benotet, ihre Versetzungen in höhere Schulstufen oder Klassen erschwert. Schulversager, Schulabbrecher, Schulschwänzer sind heute fast ausschliesslich männlich. Die Philosophin Christina Hoff Sommers, selber Feministin, spricht vom «Krieg gegen die Jungen». Das mag übertrieben sein, aber Tatbestand ist, dass Jungen in Kindergärten, Schulen und Beratungsinstanzen ständig an weibliche Verhaltensmuster und Grenzsetzungen stossen.

Die Zahlen, die Lucius Hartmann, Präsident des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrer und Gymnasiallehrerinnen (VSG), kürzlich in einem Artikel in der Fachzeitschrift «Gymnasium Helveticum» publiziert hat, deuten auf ein Problem im System. Die Befunde werfen die Frage auf, ob Knaben auf dem Weg zur Hochschulbildung diskriminiert werden. Zum Beispiel waren von 2019 bis 2023 im Kanton St. Gallen Knaben im Untergymnasium in der Überzahl. Ihr Anteil betrug gemäss kantonaler Statistik 52,4 Prozent. Allerdings bekamen im Jahr 2022 mehrheitlich Mädchen ein Abschlusszeugnis ausgehändigt. Der Anteil junger Männer betrug nur gerade 39,3 Prozent. Möglich, dass der Kanton St. Gallen nicht repräsentativ ist, da es im ganzen Kanton nur zwei Untergymnasiumklassen gibt. Doch der Trend ist auch in anderen Kantonen sichtbar: Überdurchschnittlich viele Knaben gehen den Schulen auf dem Weg zur Maturität verloren.

Junge Frauen haben in den letzten Jahrzehnten in Sachen Bildung stark aufgeholt, was aus der Perspektive der Gleichstellung natürlich erwünscht ist. An den Hochschulen sind sie mittlerweile besser vertreten als die Männer. Auch die Gymnasien werden von mehr Mädchen besucht. Selbst Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg, kommt zum Ergebnis, dass die Zahl junger Männer während der Gymnasialzeit kontinuierlich abnimmt. Um den Befund zu erhärten hat Lucius Hartmann die verfügbaren Zahlen aus verschiedenen Kantonen und jene des Bundesamts für Statistik zusammengetragen. Das Resultat lässt wenig Raum für Zweifel. Von Zürich über Luzern, St. Gallen und Solothurn bis in die Waadt ist der Anteil junger Männer zum Zeitpunkt des Eintritts ins Gymnasium höher als bei der Matura. (Nur im Kanton Freiburg ist die Lage gemäss verfügbaren Daten nicht eindeutig.) Während die Knaben sich also tendenziell aus dem Gymnasium verabschieden, verhält es sich mit dem Mädchenanteil genau umgekehrt: Er steigt von der ersten bis zur sechsten Gymnasialklasse stetig an. Resultate der angloamerikanischen Forschung scheinen dies zu bestätigen. «Meine Vermutung ist», schreibt Margrit Stamm, «dass das Gymnasium eher den Mädchen entspricht, die anpassungsfreudiger sind.» In Gesprächen mit den Bildungsinstitutionen und den Verantwortlichen in den Kantonen habe sie festgestellt, dass das Thema auf dem Tisch sei. Nun müsse diskutiert werden, wie die Schule den Bedürfnissen der Knaben besser gerecht werden könne.

Zurzeit arbeiten die Kantone an der Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität. Die Umsetzungsphase dauert bis 2029. Es bleibt also noch Zeit, darüber zu diskutieren, wie man die Attraktivität des Gymnasiums für männliche Jugendliche wieder steigern kann. Die Reform betrifft nicht nur die Gliederung des gymnasialen Weges. Sie setzt auch bei den Fächern an: So sollen neue Fächer wie Informatik, Wirtschaft und Recht, Religionen oder Philosophie dazukommen. Aus heute zehn Grundlagen-Fächern, die für die Matura zählen, würden dann 14 oder 16. Wen kann es überraschen, dass diese Idee auf wenig Gegenliebe stösst, weder bei den Schulleitungen noch bei der Lehrerschaft. Wenn neue Fächer hinzukommen, wird man nicht umhinkönnen, sich von bisherigen Fächern zu trennen. Erschwerend kommt hinzu, dass Bildungsfragen unter Kantonshoheit stehen und die einzelnen Kantone an ihren Bildungswegen festhalten möchten. Dennoch sollte ein Matura-Abschluss in der Ostschweiz mit einem in der West- oder Zentralschweiz vergleichbar sein. Wird so die Reform der Matura zur Quadratur des Kreises?

Nicht von der Hand zu weisen ist der Umstand, dass jedes neu hinzukommende Fach die Unterrichtszeit der bisherigen Fächer verkleinert. Der Fächerkanon und die Lehrpläne lassen sich daher nicht laufend erweitern, ohne dass sich jemand darüber Gedanken macht, welche Fächer und Inhalte an Wichtigkeit verloren haben. Solange das nicht geschieht, werden Bildungsexperten auch immer wieder zum Ergebnis kommen, dass Schweizer Gymnasiasten das Falsche lernen. Sollte es Zeit für eine Totalreform sein, dann hat man diese mit der jüngsten Revision gerade verpasst.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

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