LITERATUR ALS DENKSCHULE

Franz Kafkas «Die Bäume»

«Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.»

Der Form nach handelt es sich bei Kafkas Text «Die Bäume» um eine Parabel. Die narrative Kurzform ist freilich eine auf die Bildhälfte reduzierte Erzählung, deren Realbezüge sich nicht ausmachen lassen. Das heisst, es fehlt dem Text eine Sachhälfte.

Der erste Aussagesatz beginnt mit der Konjunktion «denn», die nur zwischen Sätzen steht und eine Begründung ausdrückt. Kafka deutet hier eine Ursächlichkeit an, die aber nicht ausgewiesen wird. Ebenso rätselhaft wie der fehlende Rückbezug des „denn“ bleibt das Verschwinden des mit dem Vergleichspartikel «wie» an den Gleichsetzungsnominativ «Bäume im Schnee» gebundenen Subjekts «wir». («Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee.»)
Die Baumstämme liegen «glatt» auf dem Schnee. Es sieht so aus, dass es dem Anschein nach ein Leichtes sein sollte, sie mit einem «kleinen» Stoß wegzuschieben.

Diese Annahme wird jedoch durch das Modaladverb «nein» des zweiten Satzes als nicht zutreffend entlarvt. Der Erzähler sagt ganz lapidar, das gehe «nicht». Die scheinbare Gültigkeit des Wegschieben-Könnens wird durch die augenscheinliche Tatsache widerlegt, dass die Stämme am Boden festgefroren sind. Das klingt wie eine einleuchtende Feststellung, zumal die kausale Konjunktion «denn» eine überzeugende Begründung liefert: «sie sind fest mit dem Boden verbunden.» («Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden.»)

«Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.» – Doch auf diese zur Gewissheit führende Einsichtigkeit, dass man eben im Schnee angefrorene Baumstämme nicht mit einem Fußtritt «wegschieben» könne, folgt ein adversatives «aber», dem sich der einzige Imperativ des Textes anschließt: «sieh». Kafka hat nach der Verbform ein Komma gesetzt, und zum zweiten Mal taucht jetzt das Demonstrativpronomen «das» auf. Beim ersten «das kann man nicht» ist es Akkusativobjekt, und das «das» meint das für möglich gehaltene Wegschieben der Baumstämme. Im Schlusssatz ist «das» durch das attributiv verwendete Modaladverb «sogar» als Satzglied noch hervorgehoben. Es ist hier Subjekt und bezieht sich auf die feste Verankerung der vereisten Baumstämme mit dem schneebedeckten Boden.

Kafka widerlegt aber auch diese empirische Evidenz. Das Wort «scheinbar» taucht ebenfalls zweimal auf. Am Anfang schreibt er: «scheinbar liegen sie glatt auf.» Hier ist das verrätselnde «scheinbar» ein adverbial gebrauchtes Adjektiv, im letzten Satz aber bringt er es als prädikatives Adjektiv in eine Endstellung, noch hervorgehoben durch das attributive Modaladverb «nur»: «sogar das ist nur scheinbar.» Das vorher im Indikativ Gesagte («sie sind fest mit dem Boden verbunden») wird somit erneut als Schein entlarvt.

Die jeweils vorausgehende Aussage wird so durch die darauf folgende wieder entkräftet und negiert. Die Verunsicherung des Rezipienten nimmt daher von Zeile zu Zeile zu, und die vergleichende Beziehung von Mensch und Baum erscheint eher verrätselt als beantwortet. Kafka spielt hier zwei konträre Deutungsmöglichkeiten durch, die er anschließend jedoch beide revidiert, so dass sich die dargestellte Realität vollends ins Diffuse verflüchtigt. DER ÄUSSERE SCHEIN TÄUSCHT SOMIT ÜBER DIE TATSÄCHLICHE BESCHAFFENHEIT DER DINGE HINWEG.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich