SHOW, DON’T TELL

»Show, don’t tell» ist eine narrative Technik im literarischen Schreiben, die Autoren dazu ermutigt, Handlungen und Dialoge zu verwenden, um Sachverhalte und Charaktere darzustellen, anstatt sie einfach zu beschreiben. Diese Technik ermöglicht es Lesern, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, und fördert die Identifikation mit den Erzählfiguren. Anstatt direkt zu sagen, dass eine Erzählfigur wie zum Beispiel Gregor Samsa in Kafkas «Verwandlung» an Entfremdung und Isolation leidet, wird dies gezeigt, indem sie durch Handlungen und Dialoge entsprechend dargestellt wird. Dadurch soll das Interesse des Lesers wachgehalten werden. Ausserdem wird so die Rolle des Erzählers in den Hintergrund gedrängt, eine typische Forderung an die erzählende Literatur der Moderne.

Als Kritik am Online-Marketing bedeutet »Show, don’t tell», dass Unternehmen oft nur behaupten, qualitativ hochwertige Produkte oder Dienstleistungen anzubieten, anstatt konkrete Beispiele und Erfahrungen zu zeigen. Anstatt potenziellen Kunden echte Einblicke zu vermitteln, verlässt man sich auf leere Versprechungen. Anders formuliert, wird die Wertigkeit eines Produkts oder einer Dienstleistung lediglich behauptet, anstatt visuelle Inhalte, Fallstudie oder Testimonials und andere Formen von Beweisen zu nutzen. So bewirbt ein Schreibcoach seine Dienstleistung mit einem «einmaligen, befristeten» Angebot über 2.750 Euro bzw. 250 Euro pro Monat, um seinem «Schreibclan» beitreten zu können. Dafür verspricht er als Gegenleistung mit 60 Minuten Arbeit pro Tag einen Verdienst von 100’000 Euro im Jahr. Unter dem Motto «Wir arbeiten weniger und verdienen mehr.» werden am Ende seines Newsletters Testimonials aufgeführt, die selbstredend alle positiv ausfallen. Eine Kundin, die anonym bleiben will, schreibt, sie habe noch nie so viel Umsatz in 3 Tagen gemacht. Versehen ist ihr Kommentar mit dem Hinweis: «Das Foto ist ein Symbolbild.» Verglichen mit dem Online-Marketing in den Sozialen Medien wie Facebook, Instagram, YouTube oder TikTok ist das vorstehend ausgeführte Versprechen des «Schreibclans» nicht einmal übertrieben. «Deceptive Advertising», also irreführende Werbung, ist in der Online-Umgebung weit verbreitet, obwohl Strategien zur Vermeidung von Täuschung allgemein bekannt sind.

Nicht uninteressant scheint mir hierbei die Frage, warum dem so ist? Durch das Internet wurde die Möglichkeit zu kommunizieren vervielfacht. Wir schreiben jetzt «one to many» und nicht mehr «one to one» wie in einem persönlichen Brief oder einer persönlichen E-Mail. Zwei wichtige Aspekte dieser Kommunikationsform sind die Selbstdarstellung und die Aktualität. Erstens versuchen alle, sich in ihren Beiträgen immer von der besten Seite zu zeigen, und zweitens geht es darum, möglichst immer aktuell zu sein. Forscher wollen herausgefunden haben, dass die Angst, etwas zu verpassen, wie auch die Sorge, nicht auf dem Laufenden zu sein, viele dazu zwingt, ständig auf ihr Handy zu schauen. Auch wenn jeder im Grunde weiss, nichts verpassen zu können, haben die Online Marketer, mithin die eigentlichen Sender der Kommunikation, längst das Mantra verinnerlicht, möglichst oft sowie möglich auffällig, sprich überzogen, zu posten. Dass dabei alle das Gleiche machen, scheint die meisten nicht zu stören, wodurch nochmals die Medientheorie von Marshall McLuhan aus dem letzten Jahrhundert ihre Bestätigung erfährt: «The medium is the message.»

Freilich bewirken neue Technologien eine Veränderung der Wahrnehmung und des Denkens, indem sie neue Wirklichkeiten generieren. «Wir formen unser Werkzeug, und danach formt unser Werkzeug uns.» McLuhan erklärte damit, dass die Struktur eines Mediums auch die Inhalte beeinflusst. Nicht die Inhalte bestimmen die Medien, sondern die Form des Mediums strukturiert die Inhalte. Medien sind keine neutralen Werkzeuge, sondern sie prägen die Gesellschaft, indem sie die Form des menschlichen Zusammenlebens gestalten und steuern. – Natürlich richten sich auch Webseiten und Postings nach den veränderten Rezeptionsformen. So beträgt die durchschnittliche Verweildauer, also die Zeitspanne für den Aufenthalt eines Internetnutzers auf einer Webseite, nur gerade 5 bis 7 Sekunden. Kein Wunder, dass sich in der Folge der Inhalt der Verpackung anpasst, was wohl auch der Hauptgrund ist, warum «Instagram», ein soziales Netzwerk mit Fokus auf Video- und Foto-Sharing, eine deutlich grössere Resonanz erzielt wie sein erwachsener Bruder «Facebook». Andererseits erzielt das Videoportal «TikTok» die nochmals breitere Reichweite als «Instagram», weil die Beiträge auf diesem Portal nochmals kürzer zu halten sind. Seit der Gründung gehört «TikTok» zu den am schnellsten sich verbreitenden mobilen Apps der Welt und wurde führende Kurzvideo-Plattform in Asien mit der weltweit grössten Playback-Videogemeinde.

In der schönen neuen Welt des Internets scheinen Lug und Trug an der Tagesordnung. Die Mechanik der Täuschung wird zur Norm, zumal die Generierung von Inhalten praktisch ohne Widerstand erfolgt. Möglich, dass das Internet in den Zeiten der Digital-Pioniere einmal als Ermöglichung weltweiter Transparenz galt. Heute zeigt uns diese eine Welt ohne scheinbare Grenzen ein anderes Gesicht.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Pinocchio by Disney