#SORA

«Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», Walter Benjamins berühmter Essay aus dem Jahr 1936, vertritt die These, dass das Kunstwerk durch massenweise Reproduktion seine Aura verliert. Die Aura eines Kunstwerks ist an sein einmaliges Dasein an dem Ort, an dem es sich befindet, gebunden: an sein Hier und Jetzt. Der Begriff der Echtheit lässt sich nur auf manuell hergestellte Kunstwerke anwenden, nicht auf technisch reproduzierte. Ein echtes Gemälde lässt sich von einem gefälschten unterscheiden. Bei verschiedenen Abzügen einer Kupferplatte ist das hingegen nicht mehr möglich, und erst recht nicht bei der Fotografie. Trotzdem können technische Reproduktionen gegenüber dem Original einen eigenständigen Wert haben. So kann zum Beispiel eine fotografische oder filmische Reproduktion mithilfe bestimmter Verfahren – etwa Vergrösserung oder Zeitlupe – Details hervorheben, die für das menschliche Auge normalerweise nicht sichtbar sind. Zudem kann das Abbild an Orte gelangen, die dem Original unerreichbar sind: Man hängt sich die «Mona Lisa», das weltberühmtes Ölgemälde von Leonardo da Vinci aus der Hochphase der italienischen Renaissance, an die Wand oder hört sich ein Chorwerk, das in einem Konzertsaal aufgenommen wurde, auf einem Tonträger zu Hause im Wohnzimmer an. Damit verbunden ist ein historisch bedingter Wahrnehmungswandel. Menschen der grossen Völkerwanderungen, der spätrömischen Antike oder der Wiener Moderne bewunderten nicht nur jeweils eine andere Kunst, sondern hatten auch eine andere Art der Wahrnehmung. Als Menschen der Gegenwart haben wir heute das Bedürfnis, uns die Dinge räumlich näher heranzuholen und durch Reproduktion ihre Einmaligkeit zu überwinden. Wir wollen sie uns als Abbild aneignen. Die Wahrnehmung in unserer Zeit ist somit darauf ausgerichtet, das Einmalige zu vervielfältigen, womit naturgemäss dessen Aura zerstört wird. Die ältesten Kunstwerke entstanden als Kultgegenstände im Dienst des magischen, später des religiösen Rituals. Weder mussten sie besonders schön sein, noch waren sie für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt. Als Zauberinstrumente wirkten sie im Verborgenen: Davon zeugen Götterstatuen, die nur einem Priester zugänglich waren, Madonnenbilder, die das ganze Jahr über verhängt blieben, und Skulpturen an mittelalterlichen Domen, die für den Betrachter von unten nicht sichtbar sind. Im Lauf der Zeit wurde das Kunstwerk aus dem religiösen Ritual befreit. Damit wuchsen die Gelegenheiten, es auszustellen, und das wiederum beeinflusste den Charakter der Kunstwerke selbst: Eine Porträtbüste lässt sich leichter an einen anderen Ort transportieren als eine Götterstatue, die im Tempel steht. Ein Tafelbild kann einfacher ausgestellt werden als ein Mosaik oder ein Fresko, die fest an einen Ort gebunden sind. So kam es, dass der Ausstellungswert eines Kunstgegenstands allmählich dessen Kultwert verdrängte. In der Fotografie ist dieser Prozess weiter fortgeschritten. Nur im Porträtfoto, in der Frühphase der Fotografie noch die wichtigste Erscheinungsform dieser Kunst, hat sich ein Rest an Kultwert erhalten: die Erinnerung an eine ferne oder verstorbene Person, deren Gesicht auf dem Foto fixiert ist.

Am Freitag, den 16. Februar 2024, hat das führende KI-Unternehmen Open AI, auf dessen Sprachmodellen auch Chat-GPT basiert, einen neuen Video-Generator namens SORA vorgestellt, im Grunde ein weiteres KI-Modell, das Textbefehle in Videos umwandelt und damit natürlich den Prozess der technischen Reproduzierbarkeit weiter beschleunigt. Das Prinzip scheint einfach: Per Textbefehl erhält die Software Angaben zum Inhalt des Videos. Je detaillierter der Nutzer seine Wünsche anbringt, desto besser wird das Resultat; und SORA liefert im Nu Kurzvideos von bis zu einer Minute Länge. Dutzende Beispiele wurden bereits veröffentlicht, die einen Eindruck von SORAS Können vermitteln: Cartoon-Figuren, ein einsamer Weltraum-Cowboy in einer Salzwüste oder eine Herde Mammuts in einer Schneelandschaft. Die erzeugten Videos sind visuell äusserst ansprechend und teilweise sehr detailreich gestaltet. Die Lichteffekte und Kamerafahrten sind eindrücklich. Auch die Gesichtszüge und Bewegungen der gezeigten Personen erscheinen deutlich realistischer als bei früheren Video-Generatoren. Auch andere Unternehmen haben KI-Technologien entwickelt, die Videos erzeugen können. Google zum Beispiel stellte im Januar das Modell Lumiere vor, Meta präsentierte im November eine Videovariante seines Systems Emu. Ausserdem arbeiten viele kleinere Start-ups an KI-Modellen für Videos.

Wie so oft beim Umgang mit neuen Anwendungen von Open AI reagiert die Öffentlichkeit mit einer Mischung aus Faszination und Angst auf die neue Technologie. In der allgemeinen Diskussion stechen hierbei insbesondere drei Themen hervor:

Zum einen ist die Angst vor Wahlmanipulation durch Deepfakes allgegenwärtig. Hierbei geht es um viel, zumal in diesem Jahr unter anderem in Indien und den USA richtungsweisende Wahlen anstehen. Der Open-AI-Chef Altman selbst hat zwar versprochen, dafür zu sorgen, dass Chat-GPT nicht für den amerikanischen Wahlkampf missbraucht werden kann. Das Unternehmen hat hierfür im Januar Leitlinien aufgestellt. Doch die eingebauten Hürden in Chat-GPT lassen sich oft austricksen, wenn die Prompts richtig formuliert werden.

Zweitens können KI-generierte Fälschungen auch ausserhalb der politischen Arena Schaden anrichten. Bereits seit Jahren kämpfen vor allem Frauen damit, dass Männer mittels KI-Hilfen gefälschte pornografische Bilder und Videos von ihnen erstellen und auf Internetforen verbreiten. Manchmal handelt es sich bei den Opfern um Stars wie Taylor Swift, manchmal wiederum rächen sich Männer damit an ihren Ex-Partnerinnen.

Ein dritter Diskussionspunkt betrifft die Urheberrechte, ein bekanntes Minenfeld für KI-Unternehmen. Bekanntlich hat die «New York Times» sowohl Open AI als auch Microsoft verklagt, weil ihre Modelle beim Training auf die Inhalte der Zeitung zurückgegriffen haben. Und tatsächlich hat Open AI, das sonst viel auf Transparenz gibt, bisher kaum preisgegeben, mit welchem Originalmaterial es Chat-GPT gefüttert hat.

Auch wenn Open AI dieser Kritik bei SORA durch die frühe Einbindung von Künstlerinnen und Designern entgegentreten will, kann das Unternehmen nicht sämtliche Anwendungen vorhersehen, die mit seiner Technologie genutzt werden. THE GENIE IS OUT OF THE BOTTLE. Die KI-Hilfsmittel sind also da. Die nächsten Monate werden zeigen, wie sie eingesetzt werden.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Bild aus dem vom neuen System SORA generierten Tokio-Video

OpenAI Sora in Action: Tokyo Walk