#Sprache gehört allen

Die Tyrannei der Wörter treibt mitunter seltsame Blüten. So löste zum Beispiel ein Schweizer Mittelschullehrer auf Twitter eine hitzige Debatte über Friedrich Dürrenmatts Schulbuchklassiker «Die Physiker» aus. Er fühlte sich offenbar verpflichtet, eine «Rassismus freie Umgebung» für seine Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Der Diogenes Verlag, der die Rechte an Dürrenmatts Texten besitzt, sollte seiner Ansicht auf den zweimaligen Abdruck des N-Worts (i.e. Neger) in seiner Ausgabe verzichten. Andernfalls würde er das Werk in seinen Schulklassen boykottieren. Viel ist in der Zwischenzeit über den Sinn und Unsinn dieser Forderung debattiert worden. Wenig bis gar nicht zur Sprache kam aus der Sicht des Schweizer Mittelschullehrers, ob das Werk Dürrenmatts (1921–1990) übergreifend rassistische Tendenzen aufweise. Tatsache freilich ist, dass in den frühen 1960er-Jahren, als Dürrenmatt «Die Physiker» vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung schrieb, das N-Wort noch fest im Wortschatz der Schweizerinnen und Schweizer verankert war. Dürrenmatts wortkarger, muskelbepackter Pfleger McArthur aus den «Physikern» entstand im Nachhall jener Jahre. Der zweimal mit dem N-Wort beschriebene ehemalige US-amerikanische Mittelgewichtsboxer transportiert ein Stereotyp, das in der Schweiz auch wegen der kaum existierenden schwarzen Bevölkerung lange unhinterfragt blieb. Dürrenmatt lässt in seinem Stück allerdings sehr bewusst lauter groteske, klischierte Figuren aufeinanderprallen. «Ich halte die bucklige Jungfer und das Frauenbild, das in diesem Stück transportiert wird, für wesentlich problematischer», sagt sein Biograf Ulrich Weber. Und warum? Weil so deutlich wird, wie über Neger sowie ältere, unverheiratete und verwachsene Frauen gedacht und geschrieben wurde? Macht es Sinn, über Sprachpuristen sämtliche Spuren der Diskriminierung zu verwischen? Damit ist doch niemandem gedient, am wenigsten jenen, die zu jener Zeit über sprachliche Vorurteile und Klischees diskriminiert wurden. Allerdings verkennt die Forderung des Schweizer Mittelschullehrers ebendiesen Sachverhalt, wenn er vom Diogenes-Verlag eine Ausgabe «Der Physiker» für die Schule verlangt. Wie sollen dann die betroffenen Schülerinnen und Schüler noch erkennen, warum Dürrenmatt dieses Wort verwendet hat.

Vereinfacht lässt der Kulturkampf der Wörter sowie der allgemeine Gender-Wahn wie folgt einordnen: Dinge, die vor 50 Jahren geschrieben wurden, können nicht am heutigen Standard gemessen werden. Wird das Thema diskutiert, muss man es im Kontext der Zeit sehen. Wer weiss schon, was wir alles falsch machen in den Augen derer, die in 50 oder 100 Jahre nach uns leben. Historisch gesehen, gibt es eben keine überzeitlichen Konstanten, was jedem Philosophiestudenten im zweiten Semester klar sein sollte. Auch hier gilt also, dass nichts so beständig ist wie der Wandel. «Panta rhei», alles fliesst, lautet der entsprechende Aphorismus der Heraklitischen Lehre, der zufolge niemand zweimal in denselben Fluss steigt.

Dass die Wahrheit eine Tochter der Zeit ist, belegt auch der Begründer der modernen Linguistik, der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure. So unterscheidet dieser in seiner Zeichentheorie zwischen einem synchronen und einem diachronen Sprachgebrauch. Synchronie bezieht sich auf die Betrachtung von Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt, während Diachronie die Untersuchung von Sprachveränderungen im Lauf der Zeit bedeutet. Im Fall der Synchronie untersuchen Linguisten das Sprachsystem als Ganzes, ohne sich auf spezifische historische Phasen oder Entwicklungen zu konzentrieren. Das bedeutet, dass sie die Grammatik, den Wortschatz und die Aussprache in einem bestimmten Moment betrachten, ohne sich auf die Veränderungen zu konzentrieren. Anders ausgedrückt, beschäftigt sich synchroner Sprachgebrauch mit der Sprache in einem bestimmten Moment, ohne Rücksicht auf ihre Vergangenheit oder Zukunft zu nehmen. Diachroner Sprachgebrauch hingegen betrachtet die Sprache langfristig und konzentriert sich auf die Veränderungen, die sie durchgemacht hat. In diesem Fall analysieren Linguisten die Entwicklungen der Sprache von ihren frühesten Aufzeichnungen bis zur heutigen Zeit. Sie untersuchen die historischen Kontexte, die politischen und sozialen Veränderungen, die mit der Sprache verbunden sind, und wie diese Veränderungen das Sprachsystem beeinflusst haben. Ein Beispiel für diachronen Sprachgebrauch wäre die Untersuchung der Veränderungen in der Grammatik einer Sprache. Ein weiteres Beispiel wäre die Untersuchung der Veränderungen im Wortschatz. Linguisten würden dabei die Ursprünge von Wörtern in einer Sprache verfolgen und analysieren, wie sich ihre Bedeutungen verändert haben. Sie würden auch die Einflüsse anderer Sprachen auf die Sprache untersuchen und wie sich diese Einflüsse im Wortschatz widerspiegeln. Ein wichtiger Aspekt von Saussures diachroner Sprachauffassung ist die Vorstellung von Sprachwandel. Saussure betont also, dass die Sprache keine statische Einheit ist, sondern dass sie sich mit der Zeit verändert. Dabei können neue Wörter und Ausdrücke entstehen, alte Wörter können ihre Bedeutung ändern, und die Grammatik und Syntax können sich ebenfalls verändern. Saussure untersucht diese Veränderungen, um zu verstehen, wie sich die Sprache entwickelt hat.

Auch Ludwig Wittgenstein unternimmt als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts in seinem zweiten Hauptwerk, den «Philosophischen Untersuchungen», den Versuch, eine Gebrauchstheorie der Bedeutung zu entwerfen. Dabei richtet sich Wittgenstein gegen die so genannte «realistische» Theorie der Bedeutung, nach der gilt: «Jedes Wort hat eine Bedeutung. […] Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht» (PU 1). Dieser Theorie zufolge wäre die Bedeutung des Wortes «rot» etwa ein abstrakter Gegenstand, die Farbe Rot. Für Wittgenstein ist dagegen die Bedeutung eines Wortes in den meisten Fällen durch seinen Gebrauch festgelegt: «Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache» (PU 43). Der Gebrauch eines Wortes wird demnach durch Regeln bestimmt, ähnlich wie die korrekte Verwendung einer Schachfigur: «Die Frage ‚Was ist eigentlich ein Wort?‘ ist analog der ‚Was ist eine Schachfigur?‘» (PU 108). Die Bedeutung des Wortes «rot» zu kennen, bedeutet eine Regel zu haben, mit der man rote von nicht-roten Dingen unterscheiden kann. Ein Kaufmann, von dem man rote Äpfel verlangt, könnte beispielsweise die Äpfel neben ein Farbmuster halten, um festzustellen, ob sie rot sind (PU 1). Der enge Zusammenhang, den Wittgenstein zwischen der Bedeutung eines Wortes und den Regeln für seinen Gebrauch sieht, kommt auch in folgendem Zitat zum Ausdruck: «Wie erkenne ich, dass diese Farbe Rot ist. Eine Antwort wäre ‚Ich habe Deutsch gelernt‘» (PU 381). Die Regeln des Gebrauchs eines Wortes werden also dadurch bestimmt, dass sprachliche Äußerungen im täglichen Miteinander eine bestimmte Funktion übernehmen. «Sieh den Satz als Instrument an und seinen Sinn als seine Verwendung» (PU 421). Diese Funktion kann jedoch in verschiedenen Situationen unterschiedlich sein. Für das Vorkommen von Sprache in konkreten Zusammenhängen verwendet Wittgenstein den Ausdruck «Sprachspiel»: Wittgenstein gibt eine Reihe von Beispielen für Sprachspiele «Befehlen und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen – Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung – Berichten eines Herganges […] – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten» (PU 23). Für die Gesamtheit der Handlungsmuster in einer Kultur verwendet Wittgenstein den Begriff «Lebensform». Die einzelnen Sprachspiele sind immer in eine Lebensform eingebettet: «Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform» (PU 23). Diese Stelle exemplifiziert eine Argumentationsfigur, die typisch für die Philosophischen Untersuchungen ist: Nach Wittgenstein ergeben sich viele philosophische Probleme dadurch, dass Begriffe ihrem angestammten Kontext, ihrem Sprachspiel, entfremdet werden und ungerechtfertigt auf einen anderen Zusammenhang angewendet werden. Die Lösung eines philosophischen Problems besteht oft darin, eine solche ungerechtfertigte Übertragung aufzudecken: «Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen auf ihre alltägliche Verwendung zurück» (PU 116).

Gilt Ähnliches auch für die Gendersprache? Die Gendersprache ist mit Sicherheit eine Kunstsprache. Sie wurde in Universitäten geformt, von öffentlich-rechtlichen Sendern übernommen und in den Abteilungen globaler Konzerne in Sprachanleitungen gegossen. Doch Sprache ist lebendig. Sie wächst, sie verändert sich, sie lässt sich nicht auf Dauer in Formen giessen: Sie gehört, mit anderen Worten, allen.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Jakob Schlesinger, Berlin 1831
Alte Nationalgalerie, Berlin