DU BIST DIE AUFGABE. KEIN SCHÜLER WEIT UND BREIT. – 2. Teil

Offensichtlich spricht Franz Kafka in seinem Aphorismus von einer Aufgabe. Gezielt wird der Leser angesprochen, als wüsste dieser die Antwort. Doch wie kann ein Mensch eine Aufgabe sein? Eine Aufgabe ist für viele etwas, was es zu lösen gilt, als sei es ein Rätsel. Jeder Mensch sollte demzufolge sein Rätsel lösen. Mit dem zweiten Satz meint Kafka, dass es keinen Schüler gibt. Natürlich gibt es keinen Schüler, schliesslich gibt es ja auch keinen Lehrer. Wir selbst müssen die Aufgabe meistern, allerdings gibt es kein konkretes Vorbild für die Aufgabe (wie bei 4 x 5). Die Aufgabe meint etwas ganz anderes, nämlich das ganze Leben. Nirgends wird einem Menschen beigebracht, wie er sein Leben bestreiten soll. Er muss die Aufgabe selbst zu lösen versuchen. Gleiches gilt heute für uns! Egal, ob man nun diesem Aphorismus zustimmt oder nicht, scheint sich die Tatsache tagtäglich zu bestätigen, dass die Aufgabe, die sich uns allen stellt, von niemandem mehr zu bewältigen ist. Möglich, dass Kafka uns darlegen will, dass jeder von uns darauf wartet, dass eine aussenstehende Person uns definiert und beschreibt, auch wenn dies unmöglich scheint, angesichts der komplexen Verschränkungen unserer Gegenwart. Allgemein gesprochen, leben wir in unsicheren Zeiten. Gestern noch geltende Gewissheiten scheinen in dem Masse zu schwinden, wie sich Viren vermehren oder Katastrophen zunehmen. Unterschiedliche Krisen erschweren das Leben auf eine Weise und in einer Geschwindigkeit, die es in der bisherigen Menschheitsgeschichte zuvor nicht gab. Gleichzeitig wächst der Zeitdruck, all die Probleme gut und schnell zu lösen, obwohl traditionelle Gewissheiten immer löchriger werden. Die Skepsis wächst. Kann überhaupt noch etwas gewiss sein, und gibt es überhaupt noch so etwas wie einen «archimedischen Punkt», der durch keine Krise erschüttert werden kann. Für René Descartes bildete die Aussage COGITO, ERGO SUM dieses sichere Fundament der Erkenntnis, die Unwägbarkeiten seiner Gegenwart zu bewältigen.

David Hume, der schottische Philosoph und Ökonom, war einer der bedeutendsten Vertreter der Aufklärung und wird der philosophischen Strömung des Empirismus zugerechnet. Hume ging davon aus, dass die Menschen zum Handeln und Denken geboren sind. Deshalb entwickelte er mit seiner Philosophie einen Rahmen von Basisannahmen, die Erläuterungen und Anleitungen zum menschlichen Handeln und Denken gaben. Hierbei handelte es sich um Regeln, die ihn zu grundlegenden Überlegungen und Schlussfolgerungen führten. Hume gilt dabei als eigentlicher Initiator des philosophischen Kausalitätsproblems. Er stellte die Bedeutung der Ursachen-Wirkungs-Relation für jede empiristische Erkenntnistheorie heraus: Die einzige Möglichkeit, Informationen zu erhalten, die über die eigenen Erfahrungen hinausgehen, liege dabei in Kausalrelationen. Ähnlich wie bei den Gedanken zur Kausalität handelt es sich auch beim Induktionsproblem um eine von Hume neu entdeckte Problematik. Vermutlich ist es der bis heute am meisten beachtete Teil seiner Philosophie. Hierbei wird gerade die für eine empiristische Erkenntnistheorie eminent wichtige Praxis des Lernens aus Erfahrung in Zweifel gezogen. In seinen 1748 erschienen «Untersuchungen über den menschlichen Verstand» leuchtet Hume als Empirist, der nur auf die eigenen Sinne und Erfahrungen vertraut, die menschliche Erkenntnisfähigkeit und ihre Grenzen aus. Statt metaphysische Spekulationen anzustellen, sollte der Mensch sich auf die Erforschung der alltäglichen Dinge beschränken. Bei aller analytischen Schärfe erinnert sein elegant geschriebenes Werk daran, dass Philosophie zuallererst für den Menschen da sein sollte. Dass zum Beispiel die Sonne morgen aufgeht, glauben wir nur, weil es immer so gewesen ist – sicher wissen oder verstandesmässig begründen können wir es nicht. Allein die Erfahrung führt den Menschen dazu, bestimmte Dinge als Tatsachen anzunehmen und kausale Schlüsse zu ziehen. Durch das Leben führt ihn daher weniger sein Verstand als vielmehr sein Instinkt. – Eine Gans, die täglich gefüttert wird, zögert anfangs und denkt: »Warum füttern mich dieser Mensch? Irgendetwas muss doch dahinterstecken.« Wochen vergehen, doch jeden Tag kommt der Bauer vorbei und wirft ihr Getreidekörner vor die Füße. Ihre Skepsis lässt allmählich nach. Nach einigen Monaten ist sich die Gans sicher: »Der Mensch ist mir zutiefst gutgesinnt!« – eine Gewissheit, die sich jeden Tag aufs Neue bestätigt, ja festigt. Vollends überzeugt von der Güte des Bauern staunt sie, als sie dieser am Weihnachtstag aus ihrem Gehege holt – und schlachtet. Die Weihnachtsgans ist dem «induktiven Denken» zum Opfer gefallen. Mit ebendiesem Beispiel hat schon David Hume im 18. Jahrhundert vor der Induktion gewarnt. Aber nicht nur Gänse sind anfällig dafür, wir Menschen sind es auch. Wir alle haben die Tendenz, aus Einzelbeobachtungen auf allgemeingültige Gewissheiten zu schließen. Das ist gefährlich. Nicht nur andere lassen sich so betrügen, wir betrügen uns auch selbst. Menschen, die selten krank sind, halten sich für unsterblich. Oder ein CEO, der viele Quartale nacheinander eine Gewinnsteigerung bekannt geben darf, hält sich für unfehlbar – und seine Mitarbeiter und Aktionäre ihn auch. Induktives Denken kann also verheerende Folgen haben – und doch geht es nicht ohne. Wir bauen darauf, dass wir auf der Strasse nicht grundlos niedergeprügelt werden. Wir rechnen damit, dass unser Herz auch morgen schlagen wird. Alles Gewissheiten, ohne die wir nicht leben könnten. Wir brauchen die Induktion, jedoch sollten wir nie vergessen, dass sämtliche Gewissheiten immer nur vorläufig sind. Induktion kann verführerisch sein: »Die Menschheit hat es noch immer geschafft», sagen sich viele, »also werden wir auch die zukünftigen Herausforderungen meistern.« Klingt gut, was wir indessen nicht bedenken: Diese Aussage kann nur eine Spezies machen, die bis jetzt überlebt hat. Die Tatsache, dass es uns gibt, als Hinweis zu nehmen, dass es uns auch in Zukunft geben wird, ist ein gravierender Denkfehler. Vermutlich der gravierendste.

Die Induktion wird somit als eine prinzipielle Begründungsmethode aufgefasst, die in ihrer Begründungsleistung allgemeine Gültigkeit beansprucht. Notwendige Voraussetzung für diese Methode ist die Annahme, dass sich etwas in der Zukunft so verhalten wird wie in der Vergangenheit. Damit das Induktionsprinzip zu Recht allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, muss es unmöglich sein, dass diese Voraussetzung nicht zutrifft. Die gegenteilige Annahme dieser Voraussetzung, dass die Zukunft der Vergangenheit nicht gleich sei, birgt jedoch keinen Widerspruch in sich. Sie trifft deshalb ebenfalls zu und ist durchaus vorstellbar. Wenn jedoch beide Annahmen gleichermassen möglich sind, kann die Voraussetzung, Ereignisse seien voraussehbar, unmöglich notwendig oder allgemein sein. Deshalb ist der Anspruch der Induktionsmethode auf eine allgemeingültige Begründungsleistung notwendig falsch. Jede Erkenntnis dieser Art beruht auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Doch die Verbindung von Ursache und Wirkung setzt voraus, dass dies auch in Zukunft gelten wird. Was bewiesen werden soll, wird vorausgesetzt, wodurch diese Erkenntnisart ausscheidet. Somit hat Hume gezeigt, dass es in seinem Modell menschlicher Erkenntnis keine Schlussregel gibt, die die Induktion rechtfertigt. Der Mensch komme nicht aus logischen Denkoperationen, sondern aus Gewohnheit dazu, aus den bisherigen Erfahrungen auf die Zukunft zu schliessen. Im Sinne Humes sollten wir daher, statt über Fragen nach dem Ursprung der Welten zu spekulieren, die wir ohnehin nicht beantworten können, uns lieber den praktischen Dingen des menschlichen Zusammenlebens und der Politik zuwenden. Eine gewisse Skepsis gegenüber Vorurteilen und Meinungen, auch den eigenen, bildet die Voraussetzung jeder Philosophie. Aus klaren Prinzipien Schlüsse zu ziehen und diese immer wieder zu überprüfen, ist der einzige Weg, der zur Wahrheit führt, mag er auch beschwerlich sein.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Allan Ramsay, 1713–1784
Portrait of David Hume, 1711-1776
Scottish National Portrait Gallery, Edinburgh