VOM #STAU ZUM FLUSS

Zwar bist Du beim Schreiben allein, doch Du vergisst selten, dass jemand Deinen Text lesen wird, der in der aktuellen Schreibsituation nicht anwesend ist. Im Grunde handelt es sich bei der Schreibsituation um eine zerdehnte Sprechsituation, in der die Einheit von Sprecher und Hörer aufgelöst ist. Entsprechend kann der Adressat weder zurückfragen noch unmittelbar antworten, dafür kann er Deinen Text mehrfach lesen und jedes Wort prüfen. Vielleicht belastet Dich diese Vorstellung beim Schreiben und so wirst Du übergenau jedes Wort prüfen und den Text immer wieder überarbeiten, bis er nicht mehr falsch verstanden werden kann. Gleichzeitig solltest Du Dir dabei im Klaren sein, dass Texte als Ergebnis kreativer Prozesse nie fertig sein können. «Schreiben hat mit Können nichts zu tun, es ist ein andauerndes Umgehen mit dem Nicht-Können», wie Peter Bichsel einmal treffend festgestellt hat. Über diesen Punkt kannst Du Dir gar nicht genug konkrete Gedanken machen, wenn Du nicht in einer Schreibblockade enden willst. Offensichtlich ist Schreiben auch für Schriftsteller nichts Selbstverständliches. Sollte man es nicht können, wird man es wohl auch nie lernen. Trotzdem ist es möglich, mit dem, was Bichsel «Nicht-Können» nennt, umgehen zu lernen, gerade in einer Schaffenskrise, bei deren Auftreten Du als Autor dauerhaft oder vorübergehend nicht mehr in der Lage bist, einen Text zu produzieren.

Bekanntlich liegt das Tückische an Schreibblockaden darin, dass sie Deine ganze Aufmerksamkeit beanspruchen und so zum Selbstläufer werden. Du sitzt vor dem leeren Blatt Papier, und es fällt Dir nichts ein. Also denkst Du darüber nach, dass Dir nichts einfällt. Du ärgerst Dich über die Situation und darüber, dass Du darüber nachdenkst, dass Dir nichts einfällt. Und am Ende sogar darüber, dass Du Dich ärgerst. Je stärker Du versuchst, die Gedanken wegzuschieben, desto lauter dröhnt es in Deinem Kopf: DIR FÄLLT NICHTS EIN! Die öde krisselige Schneelandschaft des leeren Blatts türmt sich auf vor Dir; Du kannst sie nicht überwinden. – Welche Sätze es auch immer sind, mit denen sich der Schreibstau bei Dir bemerkbar macht, es gibt eine Methode, um aus der Not eine Tugend zu machen. Statt verzweifelt gegen die Schreibkrise anzukämpfen und sie immer grösser werden zu lassen, tu ihr doch den Gefallen und lass sie selbst zu Wort kommen. Schreib einfach auf, was Dich davon abhält zu schreiben. Notiere, warum es so schwierig ist, auch nur ein Wort aufs Blatt zu bringen. Kritzle die immer gleichen Phrasen aufs Papier oder in den Computer, verfluche Dein Versagen, Hauptsache, Du schreibst, denn schreiben lernt man nur beim Schreiben. Du wirst merken, wie Du unverhofft wieder in den Schreibfluss gelangst. Statt Dich weiter zu verkrampfen und der Blockade immer mehr Raum zu verleihen, schlägst Du sie mit ihren eigenen Waffen. Beschreibe, wie sich die Schreibblockade anfühlt, welchen Charakter sie hat. Stell sie Dir bildlich vor. Manch bekannter Text, der die Herausforderung zu schreiben zum Thema hat, ist so entstanden.

Das legendärste literarische Beispiel hierfür ist wohl Hugo von Hofmannsthals «Der Brief des Lord Chandos», erschienen kurz nach der Jahrhundertwende im Oktober 1903 im Feuilleton der Berliner Zeitung «Der Tag». Der nur wenige Seiten umfassende Brief des fiktiven Lord Chandos an den historischen Philosophen Francis Bacon ist auf den 22. August 1603 datiert. Es handelt sich um ein Antwortschreiben, das wie ein Gespräch unter gelehrten Freunden gehalten ist. Die historisch-fiktive Maskerade ist ein sprachkritischer Essay in Briefform, eine zentrale Schrift in Hofmannsthals Werk, berühmt geworden als Schlüsseltext der Moderne. Als Dokumente der kulturellen Krise um die Jahrhundertwende, wurde er zum Gegenstand zahlloser Interpretationen in der Literaturwissenschaft. In dem Schreiben wendet sich der fiktive Philipp Lord Chandos an seinen Mentor, den englischen Philosophen und Naturwissenschaftler Francis Bacon. Chandos schildert seine persönliche Krise als Folge der Unzulänglichkeit der Sprache und begründet damit seinen völligen Rückzug vom literarischen Schaffen. Ironischerweise wird dabei die Sprachlosigkeit sehr sprachmächtig beschrieben. Chandos beklagt, dass Worte zu Wirbeln würden, die ihn ins Nichts hinabzögen. «Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen», lässt Hofmannsthal Chandos schreiben, «über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, Worte wie ,Geist`, ,Seele` oder ,Körper` auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.»

Auch wenn offen bleibt, ob die Figur des fiktiven Lord Chandos autobiographische Züge des Dichters Hugo von Hofmannsthal trägt, steht doch fest, dass er wie sein Protagonist auf ein gelobtes Frühwerk zurückblicken konnte und dass der vorliegende Brief eine Wende im Schaffen des Künstlers markiert. Hofmannsthal war der Meinung, dass sich die poetische Sprache von der Alltagssprache unterscheiden müsse und keinem Zweck unterliegen dürfe. Die Lyrik sollte keinen direkten Zusammenhang zur realen Welt herstellen. Diese Verbindung war es jedoch, die Hofmannsthal zum Zweifeln brachte, denn die Ansprüche an seine Literatur konnten durch die Sprache nicht mehr eingelöst werden. Er konnte seine neuen ldeen nicht mehr umsetzten, so dass sich bei ihm eine Art der Sprachkrise entwickelte, welche ihn aber nachweislich nicht vom Schreiben weiterer Werke abgehalten hat. Vermutlich sah er so wie der französische Poet Arthur Rimbeau im Dichter einen Seher, der durch eine «lange und überlegte Entnervung aller Sinne» eine neue Sprache schafft, die «das Unbekannte ausdrückt» und «die Dinge mit einem Namen versieht, der ihnen noch nicht gehört». In einem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871 nannte Rimbeau diese Sprache «die Sprache der Götter» oder «die universelle Sprache» und glaubte, dass sie die Wirklichkeit verändern und erweitern könne.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

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