WANN KOMMT DIE ALTE DAME?

«Der Besuch der alten Dame» ist neben «Den Physikern» und «Dem Meteor» Friedrich Dürrenmatts bekanntestes und erfolgreichstes Theaterstück. Die Uraufführung mit Therese Giehse in der weiblichen Hauptrolle fand am 29. Januar 1956 im Zürcher Schauspielhaus statt. Die «tragische Komödie» in drei Akten wurde zu einem Welterfolg und brachte dem Autor die finanzielle Unabhängigkeit. Die im Titel genannte Dame ist freilich keine nette alte Dame, die Dürrenmatt in seinem Drama im verlotterten Provinzkaff Güllen aussteigen lässt. Die steinreiche Claire Zachanassian hat es faustdick hinter den Ohren. Den unterwürfigen Speichelleckern des heruntergewirtschafteten Städtchens macht sie ein unmoralisches Angebot: Im Austausch für eine Finanzspritze von einer Milliarde fordert sie den Tod ihres früheren Liebhabers Alfred Ill. Die anfängliche Entrüstung der Bewohner entpuppt sich rasch als überzogen, und sie beginnen Gefallen an der heimtückischen Versuchung zu finden, die sich hinter die biedere, humanistisch angehauchte Bürgerfassade geschlichen hat. Mehr und mehr verwandeln sich die Strassen von Güllen für Alfred Ill in ein heisses Pflaster. Die Konjunktur rauscht durch Ills Heimatstädtchen, und wie der alles fressende Moloch fordert DIE ALTE DAME ein Menschenopfer: sein Leben. Symbolisch steht die Stadt für eine Gesellschaft, die durch wirtschaftlichen Niedergang handlungsunfähig geworden ist. Ill selbst wird zum Schuldner, da die Bürger ihre Käufe in seinem Laden anschreiben lassen. Seine Rolle als Kaufmann macht ihn zunächst zum Profiteur, doch die wachsende Verschuldung der Bürger wird zur Falle, da sie ihn letztlich opfern, um ihre eigenen Schulden zu tilgen. Dabei verschulden sich die Bürger nicht nur finanziell, sondern auch moralisch, indem sie ihre Prinzipien verraten. Sie rechtfertigen ihren Verrat mit der Notwendigkeit, ihre Existenz zu sichern. Auch Claire Zachanassian betrachtet Ill als moralisch verschuldet, da er sie in ihrer Jugend gedemütigt und verraten hat. Ihre Rache ist eine Form der «Begleichung» dieser Schuld, allerdings auf perverse Weise durch die Manipulation der gesamten Stadt. Die Stadt selbst trägt eine kollektive Schuld, da sie Claire in ihrer Jugend nicht unterstützt hat. Ihre jetzige Notlage kann als Konsequenz dieser früheren moralischen Versäumnisse gelesen werden. Geschickt nutzt Dürrenmatt das Motiv der finanziellen Schulden, um die Verführbarkeit des Menschen durch Geld zu kritisieren. Die Bürger Güllens verwandeln sich von moralisch integren Menschen in Komplizen eines Mordes, weil sie ihre finanziellen Probleme lösen wollen. Die Komödie zeigt, wie Geld und Schulden Machtstrukturen schaffen: Claire kontrolliert die Stadt durch ihre finanzielle Überlegenheit, und die Bürger werden zu Marionetten ihrer Gier. Gleichzeitig wird die Illusion von Gerechtigkeit entlarvt! Claires Rache ist keine Wiedergutmachung, sondern ein Akt der Zerstörung, der die Stadt moralisch und sozial ruiniert, selbst wenn sie finanziell «gerettet» wird.

In vielem verweist das Stück auf die aktuelle Überschuldung vieler Industrienationen. Die am höchsten verschuldeten Industrienationen, gemessen an ihrer Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), sind derzeit Japan mit einer Schuldenquote von über 250 % des BIP, Europa mit einer Schuldenquote von 88,2 %, wobei Länder wie Frankreich, Griechenland, Italien oder Frankreich die im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegte Obergrenze von 60 % des BIP deutlich überschreiten, sowie natürlich die Vereinigten Staaten, die 2025 eine Schuldenquote von über 35 Billionen US-Dollar aufweisen, was in etwa 124 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bedeutet.

Natürlich ist Amerika nicht Güllen, trotzdem stellt sich am Ende wie bei allen Schuldnern die Frage: WANN KOMMT DIE ALTE DAME? Wie in solchen Fällen immer gibt es zur Vermeidung im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Man verringert die Ausgaben oder steigert die Einnahmen, damit die Bilanz wieder in ein Gleichgewicht kommt. Um Ersteres zu erreichen, versucht die neue Administration über das Department of Government Efficiency (DOGE) die Effizienz der US-Bundesregierung zu steigern, Bürokratie abzubauen und staatliche Ausgaben zu reduzieren. Das ambitionierte Projekt zur Reform der US-Bundesregierung erfuhr sowohl Unterstützung als auch erhebliche Kritik. Während einige die Bemühungen zur Effizienzsteigerung begrüssen, warnen andere vor den möglichen negativen Auswirkungen auf öffentliche Dienstleistungen und den Datenschutz. – Andererseits kann man versuchen, so wie jetzt Donald Trump, Zölle gegenüber Handelspartnern zu erheben, um eine Renaissance der Fertigungsindustrie auszulösen, auch wenn die Zölle selbst diese ohnehin schon monumentale Aufgabe noch schwieriger zu machen scheinen. Um Fabriken zu bauen und zu erweitern, benötigen Unternehmen nämlich Maschinen und Rohstoffe, wobei viele in der Regel importiert werden und nun einer Vielzahl von Strafzöllen unterliegen. Dies verschärft eine Reihe bereits bestehender Hindernisse für die Verwirklichung von Trumps Versprechen, Amerika wieder zu industrialisieren, wo seit 1979 fast 7 Millionen Arbeitsplätze in der Fertigung verloren gegangen sind, da die Produktion in billigere Länder verlagert wurde und die Automatisierung zugenommen hat.

Inwieweit die Gespräche zwischen den USA und China am Wochenende in Genf zur Entspannung im Zoll-Konflikt beitragen, wird sich zeigen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die amerikanische Zollpolitik alle Grenzen überschreitet. In der Folge sind die Renditen der amerikanischen Staatsanleihen innerhalb weniger Tage gestiegen, ein Zeichen dafür, dass diese Anleihen von den Investoren weniger nachgefragt werden, was eine weitere Erhöhung der amerikanischen Staatsschulden bewirkt. Indem Donald Trump so eine langfristige Zinserhöhung provoziert, erstickt er die amerikanische Wirtschaft und verteuert die Kosten für die öffentlichen Schuldzinsen, so dass sie am Ende untragbar werden. (Am Rande bemerkt, werden die auferlegten Zölle das Handelsdefizit der Vereinigten Staaten nicht beheben, denn die Aussenhandelsbilanz wird nicht durch die Zölle bestimmt, sondern durch das Verhältnis von Ersparnissen und Konsum. Die Amerikaner konsumieren mehr, als sie sparen, deshalb haben sie ein Aussenhandelsdefizit, für das sie mit Kapital bezahlen, das aus dem Ausland kommt.) Was also ist zu tun, WENN DIE ALTE DAME KOMMT? Ein Zahlungsausfall der USA wäre beispiellos und hätte weitreichende Konsequenzen: Ein solcher Ausfall könnte die globalen Finanzmärkte destabilisieren und das Vertrauen in US-Staatsanleihen erschüttern. Die Kreditwürdigkeit der USA könnte herabgestuft werden, was zu höheren Zinsen für Staatsanleihen führen würde. Ein Zahlungsausfall könnte eine Rezession auslösen und die Rolle des US-Dollars als globale Leitwährung gefährden. Obwohl ein Zahlungsausfall als unwahrscheinlich gilt, stehen die USA vor einer ernsthaften finanziellen Herausforderung, die nur durch eine rechtzeitige politische Einigung abgewendet werden kann. Andernfalls droht dem Dollar das Schicksal aller Fiat-Währungen. Historisch gesehen gibt es hierzu einige wiederkehrende Muster: Möglich sind eine Hyperinflation wie 1933 in der Weimarer Republik, eine Währungsreform, um Schulden zu entwerten, wobei die Bürger einen Teil ihres Vermögens verlieren, oder den Ersatz der Fiat-Währung durch staatlich gestützte digitale Zentralbankwährungen (CBDCs). Jüngstes Beispiel ist der digitale Euro, eine geplante elektronische Form des Euro, die von der Europäischen Zentralbank (EZB) herausgegeben werden soll. Die Einführung eines digitalen Euros bringt neben Chancen allerdings auch Risiken und Gefahren, insbesondere wenn er falsch ausgestaltet wird oder politische Entwicklungen ihn missbrauchen. Die Gefahr eines digitalen Euro liegt daher nicht im Konzept selbst, sondern in seiner Umsetzung. Eine falsch aufgesetzte Digitalwährung kann die finanzielle Freiheit einschränken, die Privatsphäre aushöhlen und die staatliche Macht über den Einzelnen so wie in China stärken.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Quentin Massy
Die hässliche Herzogin, 1513
National Gallery, London