WAS SIND #KOGNITIVE VERZERRUNGEN?

Kognitive Verzerrungen, sogenannte «Bias», wie sie auf Englisch heissen, sind systematische Fehler in der menschlichen Wahrnehmung, die dazu führen, dass wir Informationen auf eine irrationale oder ungenaue Weise interpretieren. Unter dem kognitionspsychologischen Sammelbegriff versteht man daher eine systematisch fehlerhafte Neigung beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken oder Urteilen. Diese bleiben meist unbewusst und basieren auf kognitiven Heuristiken, also auf mentalen Abkürzungen oder Faustregeln, die bei der Entscheidungsfindung und Problemlösung angewandt werden. Zwar können Heuristiken zuweilen nützlich sein, um schnelle Entscheidungen zu treffen, wenn es nicht möglich ist, alle verfügbaren Informationen zu berücksichtigen, doch führen sie oft auch zu kognitiven Verzerrungen oder Fehlern. Um die Vorteile von Heuristiken zu nutzen und die Risiken von Fehlern und Verzerrungen zu minimieren, ist es daher wichtig, kritisch zu denken und alternative Perspektiven und Informationen in Betracht zu ziehen, bevor eine Entscheidung getroffen wird.

A) DER CONFIRMATION BIAS
Der Vater aller Denkfehler ist vermutlich der «Confirmation Bias», auch Bestätigungsfehler genannt. Keine Berufsgattung leidet stärker an ihm als die Wirtschaftsjournalisten. Oft stellen sie eine Theorie auf, setzen zwei, drei Belege hinzu und fertig ist der Artikel. Zum Beispiel ist «Apple» so erfolgreich, weil die Firma eine Kultur der Kreativität lebt. Also geht der Journalist hin, sucht sich zwei, drei Firmen heraus, die ebenfalls Kreativität leben und damit erfolgreich sind. Allerdings macht er sich nicht die Mühe, Gegenbeispiele auszugraben, also jene Firmen zu suchen, die eine Kultur der Kreativität pflegen, aber nicht erfolgreich sind oder solche, die erfolgreich sind, jedoch keine Kultur der Kreativität leben. Nach demselben Muster sind Erfolgs- und Lebenshilfebücher gestrickt. Banalste Theorien werden aufgetischt – etwa: «Autogenes Training ist der sicherste Weg zur Glückseligkeit.« Natürlich hat der schlaue Autor haufenweise bestätigende Beispiele dafür. Nach Menschen, die ohne autogenes Training glücklich sind, und nach Menschen, die trotz autogenem Training unglücklich sind, sucht man freilich vergebens. Weil der Confirmation Bias unbewusst bleibt, fallen so viele Leser auf solche Ratgeber herein. Sie lesen Blogs, die ihre Theorien bestärken. Sie bewegen sich ausserdem zunehmend in Communitys von Gleichdenkenden, die den Confirmation Bias weiter stützen. »Was die Menschen am besten können, ist, neue Informationen so zu filtern, dass bestehende Auffassungen intakt bleiben«, sagt der amerikanische Starinverstor Warren Buffett. Nicht auszuschliessen, dass er gerade deshalb so erfolgreich ist, weil er sich der Gefahr des Confirmation Bias bewusst ist und sich zwingt, anders zu denken, nämlich zu invertieren.

B) DAS EXPONENTIELLE WACHSTUM
Kann ein gefaltetes Blatt unser Denken übersteigen? Gesetzt den Fall, ein Stück Papier wird in der Mitte gefaltet, dann wieder in der Mitte gefaltet und wieder und wieder. Wie dick wird es wohl sein, nachdem man es 30-mal gefaltet hat? Nehmen wir an, dass das Blatt Papier ein Zehntelmillimeter dünn ist, dann beträgt seine Dicke nach 30 Faltungen 100 Kilometer. Bei 42 Faltungen hättest Du den Mond erreicht und wenn Du das Blatt 51-mal faltest, bist Du bei der Sonne angekommen. Wie aber ist das möglich? Die Antwort lautet: exponentielles Wachstum. Mit jedem Faltvorgang verdoppelt sich die Dicke des Papiers. Zwar verstehen wir lineares Wachstum intuitiv, doch fehlt uns ein Gefühl für exponentielles oder prozentuales Wachstum. Ein anderes Beispiel ist die Geldentwertung oder die Inflation. Beträgt die jährliche Teuerung 5 %, so wird Dein Geld in 14 Jahren nur noch die Hälfte wert sein, natürlich ein Skandal, solltest Du nur ein Sparkonto besitzen. Die Inflation vernichtet also Deine Kaufkraft, was allerdings von Politikern und Ökonomen geflissentlich unterschlagen wird. Jedes exponentielle Wachstum kommt irgendwann an eine Grenze, so dass, sofern der Teuerung nichts entgegengesetzt wird, Dein Kapital irgendwann gegen Null tendiert. (Im Übrigen auch die Währung.) Ein anderes Beispiel aus der Finanzwelt: Bei einem Kredit mit einem Zinssatz von 5% pro Jahr erhöht sich die Schuldenlast jedes Jahr um 5%. Wenn jedoch die Zinsen nicht bezahlt werden und sich auf die Schulden aufaddieren, führt dies zu exponentiellem Wachstum der Schulden. Nach 10 Jahren würde sich die Schuldenlast fast verdoppeln, und nach 20 Jahren würde sie sich vervierfachen. Auch dieses Wachstum ist exponentiell, da die Zinsen proportional zur aktuellen Schuldenlast sind. Dass unser Hirn Mühe mit exponentiellem Wachstum hat, zeigt auch ein Märchen aus dem alten Persien. Ein kluger Höfling, der seinem König ein Schachbrett schenkte, wollte zur Belohnung, dass dieser ihm das Schachbrett mit Reis auffüllt. Der König sollte ein Reiskorn auf das erste Feld, und dann auf jedes weitere Feld stets die doppelte Anzahl an Körnern legen. Also zwei Reiskörner auf das zweite Feld, vier Reiskörner auf das dritte und so fort. Zunächst, so das Märchen, war der König erstaunt über den bescheidenen Wunsch seines Höflings. Bald merkte er jedoch, dass er in Wahrheit mehr Reis gebraucht hätte, als auf Erden wächst. Wenn es daher um Wachstumsraten geht, vertraue nicht auf Dein Gefühl. Was Dir wirklich hilft ist der Taschenrechner.

C) DER RÜCKSCHAUFEHLER
Der Rückschaufehler, auch Hindsight Bias genannt, erklärt, warum wir so selten aus der Vergangenheit etwas lernen. Menschen neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten systematisch zu überschätzen, Ereignisse vorherzusagen oder Sachverhalte zu durchschauen. Nicht selten führt das zu Aussagen wie: «Ich hab’s euch gleich gesagt!» oder «Ich wusste es von Anfang an.» Interessanterweise hat aber im Vorfeld niemand etwas unternommen, um das meist negative Ergebnis abzuwenden. Hinterher sind alle immer klüger. Zumindest theoretisch. Egal, wie die Dinge ihren Lauf nehmen, geahnt haben das natürlich schon immer alle. Eigentlich sogar gewusst. Tatsächlich neigen wir dazu, uns retrospektiv zu überschätzen. Oder anders formuliert: Wir interpretieren so lange unsere ursprünglichen Aussagen um, bis sie zum tatsächlichen Ereignis passen. Die eigenen Vorhersagen werden offenbar in der Erinnerung stark verfälscht. Untersucht wurde das Phänomen des Rückschaufehlers erstmals 1975 von Baruch Fischhoff an der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh. Dabei handelt es sich um eine kognitive Verzerrung, weil wir uns systematisch falsch an frühere Vorhersagen erinnern, um diese treffend zum tatsächlichen Ereignis umzudeuten. Was nicht passt, wird also passend gemacht beziehungsweise passend interpretiert. Teils geschieht dies, um Schuld zuzuweisen oder aus geringem Selbstbewusstsein heraus, teils aber auch aufgrund einer veritablen Profilneurose. Tatsächlich hat die Persönlichkeit der Betroffenen erheblichen Einfluss auf diese Form der Selbsttäuschung. Erwartungsgemäss behaupten Menschen, die einen starken Hang zur Selbstdarstellung haben, deutlich öfter als andere, die richtige Antwort vorher gewusst zu haben. Die Wirkung des Hindsight Bias ist natürlich fatal: Die Umdeutung und Verzerrung der Wirklichkeit sorgt dafür, dass die Betroffenen hinterher nicht mehr in der Lage sind, die Umstände und Gründe, die zu dem Ereignis führten, richtig zu beurteilen. Der Hindsight Bias verhindert so, dass sie etwas aus ihren fehlerhaften Voraussagen und Annahmen lernen.

D) DIE KOGNITIVE DISSONANZ
Bestimmt kennst Du die Redewendung «Dem Fuchs hängen die Trauben zu hoch.» Das Sprichwort entwickelte sich aus einer Fabel des Dichters Äsop, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte. Darin versucht ein Fuchs, Trauben von einem Weinstock zu naschen. Da er jedoch zu klein ist, kommt er nicht an sie heran. Der Fuchs gibt auf und verkündet: «Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben», und stolziert mit erhobenem Haupt in den Wald zurück. Die Fabel des griechischen Dichters illustriert einen der häufigsten Denkfehler. Was sich der Fuchs nämlich vorgenommen hat und was dabei herausgekommen ist, passen nicht zusammen. Die Fabel karikiert also den unehrlichen Umgang mit einer Niederlage: Um sich nicht eingestehen zu müssen, dass er die Trauben nicht erreichen kann, behauptet der Fuchs, sie gar nicht erreichen zu wollen. Wir kennen das alle: Wenn wir etwas nicht haben können, tun wir oft so, als ob wir es gar nicht haben möchten. Angenommen, Du hast Dich um eine Stelle beworben, aber man hat Dir einen anderen Bewerber vorgezogen. Statt Dir einzugestehen, dass Du zu wenig qualifiziert bist, redest Du Dir ein, dass Du die Stelle eigentlich gar nicht haben wolltest. Du wolltest vielleicht nur mal wieder Deinen »Marktwert« testen. In der Psychologie wird ein solches Schönreden eines Versagens auch als «Rationalisierung» oder «Kognitive Dissonanz» bezeichnet.

E) DER SPIELERFEHLSCHLUSS
Der Spielerfehlschluss ist ein Denkfehler, bei dem eine Person irrtümlicherweise glaubt, dass zufällige Ereignisse in einem Glücksspiel oder einer Wette in einer bestimmten Reihenfolge auftreten oder dass ein bestimmtes Ergebnis häufiger vorkommt, weil es in der Vergangenheit nicht aufgetreten ist. Der Spielerfehlschluss basiert auf der falschen Annahme, dass zufällige Ereignisse auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind oder dass die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses durch die Anzahl der Male beeinflusst wird, die es in der Vergangenheit aufgetreten ist. Ein Beispiel für den Spielerfehlschluss wäre eine Person, die glaubt, dass, nachdem beim Roulettetisch im Casino die Kugel 10-mal auf Schwarz gefallen ist, diese beim nächsten Mal mit grösster Wahrscheinlichkeit auf Rot fallen müsse. Freilich sind die Chancen für das Auftreten von Rot oder Schwarz bei jedem Spin des Rades gleich, unabhängig davon, was in der Vergangenheit passiert ist. Gleiches gilt beim Pokerspiel. Glaubt eine Person, dass ihre Chancen auf eine gute Hand höher sind, wenn sie eine lange Serie von schlechten Händen hatte, unterliegt sie dem gleichen Irrtum. Tatsächlich hat jeder einzelne Spielzug im Pokerspiel dieselben Chancen auf eine bestimmte Hand wie jeder andere. Offensichtlich glauben viele an eine ausgleichende Kraft des Schicksals. Allerdings gibt es bei unabhängigen Ereignissen keine ausgleichende Kraft. Eine Kugel kann sich nicht daran erinnern, wie oft sie schon auf Rot zu liegen kam, und eine Karte weiss nicht, in welcher Kombination sie zuletzt gestochen hat. Wichtig zu verstehen ist in diesem Zusammenhang, dass Glücksspiele und Wetten auf Zufällen basieren und dass vergangene Ereignisse keinen Einfluss auf zukünftige Ergebnisse haben. Es gibt keine Garantie dafür, dass ein bestimmtes Ergebnis in der Zukunft auftreten wird. Jeder einzelne Spielzug oder Spin hat die gleichen Chancen auf jedes mögliche Ergebnis wie jeder andere.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Rudolf Hausner, 1914 – 1995
Kaiblinger – Galerie & Kunsthandel, 1010 Wien