DU BIST DIE AUFGABE. KEIN SCHÜLER WEIT UND BREIT. – 3. TEIL

Franz Kafka scheint uns mit dem titelgebenden Aphorismus darlegen zu wollen, dass jeder Mensch eine Aufgabe ist. Jeder von uns wartet jedoch darauf, dass ihn eine aussenstehende Person definiert, selbst wenn dies unmöglich ist, denn wir kennen uns selber am besten. Allerdings scheint die Selbstfindung ebenso unmöglich, denn wir können ohne fremde Hilfe unser eigenes Rätsel nicht lösen. Wir denken, dass wir nicht nur das passive Element, sondern ausserdem nicht in der Lage sind, uns selbst zu lösen. Grundsätzlich vermag niemand die Frage zu beantworten: Wer bin ich? Noch immer scheinen wir auf den Schüler zu warten, der die Aufgabe für uns löst. Wir möchten uns auf fremde Hilfe verlassen, die wir heute jedoch nicht mehr erhalten. Die Aufgabe verbleibt ungelöst. In einer Zeit der unsicheren Gewissheiten will es uns allem Anschein nach nicht mehr gelingen, die Unwägbarkeiten unserer Gegenwart angesichts unterschiedlicher Weltbilder zu bewältigen. Wir leben in unsicheren Zeiten, in der traditionelle Gewissheiten immer löchriger werden. Es scheint keinen «archimedischen Punkt» mehr zu geben, der nicht durch jede neue Krise erschüttert werden kann.

Ludwig Wittgenstein unternimmt als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts in seinem Spätwerk «Über Gewissheit» kurz vor seinem Tod im April 1951 noch einmal den Versuch, das zu erkunden, was sich nicht infrage stellen lässt. Er will etwas im wahrsten Sinne des Wortes festmachen, damit der Zweifel endlich zur Ruhe kommt. Wie vor ihm René Descartes und David Hume versucht er, die klaren Annahmen theoretischer Grundsätze in lebendige Gewissheiten zu überführen. Wittgenstein ist sich bewusst, dass wir uns stets irren können. Sein Gewissheitskonzept zielt nicht darauf ab zu zeigen, wo wir Zugang zur Wahrheit haben, sondern inwiefern der Zweifel aufgrund seiner Verwurzelung im Sprachspiel sinnlos oder unverständlich werden kann. So führt er an, dass die Struktur unserer Sprache dazu verleiten kann, Zweifelsätze zu bilden, wo nicht gezweifelt werden kann. Der radikale Skeptiker, welcher an allem zweifeln möchte, übersieht im Sinne Wittgensteins, dass unsere Zweifel nur in einem System von Gewissheiten sinnvoll werden. So ist sprachlicher Zweifel an etwas in der Aussenwelt Existierendem nur sinnvoll, weil man dabei nicht an der Bedeutung der eigenen Worte zweifelt. Akzeptiert jemand diese Gewissheiten nicht, sondern zweifelt sie an, wird der Zweifel selbst unsinnig. Damit also ein innerhalb der Sprachgemeinschaft sinnvoller Zweifel möglich ist, muss zunächst ein System von Sätzen angenommen werden, welche nicht angezweifelt werden. «Zweifeln heisst denken. Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht. Ein Zweifel ohne Ende ist nicht einmal ein Zweifel» § 220. Unbezweifelbare Sätze in einem absoluten Sinne gibt es Wittgenstein zufolge nicht. Illustriert wird dies in «Über Gewissheit» anhand des Bildes eines Flussbetts: «Man könnte sich vorstellen, dass gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und dass sich dieses Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden» § 96. Die unbezweifelten Sätze können, um im Bild zu bleiben, wieder in Fluss geraten, das Flussbett der Gedanken sich verschieben. Der Glaube an einen Satz oder ein System von Sätzen hat durchaus normativen Charakter: So kann ein Mensch, sollte er etwas entdecken, was einer seiner Überzeugungen zuwiderläuft, stets die Überzeugung oder das Bezugssystem, also das «Flussbett», verändern. Allerdings zeigt sich der feste Glaube an einen Satz nicht in einer sprachlich zu äussernden Überzeugung, sondern in einer Handlung.

Insofern kommt jeder Zweifel notwendig an ein Ende, weil am Grunde unseres Zweifels und aller Skepsis immer ein Handeln liegt. Eine uns allen eingeübte Praxis, die jede und jeder Einzelne wie selbstverständlich aufnimmt und als den gemeinsamen Hintergrund des Lebens akzeptiert. Richtig ist freilich auch, dass dieser Hintergrund sich verändern und umgeschrieben werden kann, was indessen nichts daran ändert, dass es einen solchen Hintergrund als Grundlage unseres gemeinsamen Handelns gibt. So gesehen, gibt es Gewissheiten oder Überzeugungen, die keinen weiteren Zweifel oder Irrtum zulassen. Natürlich sind das keine objektiven Gewissheiten, aber sie bilden das Fundament unseres Weltbildes. Am Grunde unseres Zweifels liegen also Überzeugungen, denen wir vertrauen und mit denen wir vertraut sind. Wir anerkennen sie gleichsam als eine von vielen Menschen geteilte Lebensform. Damit gleicht die Gewissheit einer Art von fliegendem Teppich, die Gewissheit trägt uns, auch wenn sie kein Fundament, keinen festen Boden hat, sondern sie besteht aus einem Gewebe von Überzeugungen, Argumenten, Regeln und Sätzen, die uns als «fliegender Teppich» Festigkeit suggerieren. Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen somit darauf, dass gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, sie sind gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen § 341.

Wittgenstein begegnet also der universellen, alles zerstörenden Skepsis sowie dem Relativismus der Moderne auf eine ebenso geistreiche wie abgebrühte Weise, wie Fynn Ole Engler in seiner Abhandlung «Unsichere Gewissheiten» festhält. Ein Zitat aus Wittgensteins Text zeigt recht gut, was er damit meint: «Wenn Einer glaubt, vor wenigen Tagen von Amerika nach England geflogen zu sein, so glaube ich, daß er sich darin nicht irren kann. Ebenso, wenn Einer sagt, er sitze jetzt am Tisch und schreibe. «Aber wenn ich mich auch in solchen Fällen nicht irren kann, – ist es nicht möglich, daß ich in der Narkose bin?« Wenn ich es bin und wenn die Narkose mir das Bewußtsein raubt, dann rede und denke ich jetzt nicht wirklich. Ich kann nicht im Ernst annehmen, ich träume jetzt. Wer träumend sagt »Ich träume«, auch wenn er dabei hörbar redete, hat so wenig recht, wie wenn er im Traum sagt »Es regnet«, während es tatsächlich regnet. Auch wenn sein Traum wirklich mit dem Geräusch des Regens zusammenhängt» § 675 – 676. Auf diese Weise findet Wittgenstein eine Antwort auf einen radikalen Skeptizismus, ohne auf ein absolut sicheres Fundament der Erkenntnis setzen zu müssen. Wir vertrauen schlicht und einfach auf grundlegende Gewissheiten, weil sie in unserer gemeinsamen Lebensform verankert sind. Bei aller Unsicherheit und Skepsis würde Wittgenstein also daran festhalten, dass wir alle bestimmte Gewissheiten teilen, auch wenn es keine letzten Gewissheiten gibt.

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Ludwig Wittgenstein (1899–1951).
Österreichische Nationalbibliothek, by Moritz Nähr, 1930