#Wörter und ihre #Bedeutung

«Die Philosophischen Untersuchungen» (PU) sind Ludwig Wittgensteins spätes, zweites Hauptwerk. Das Buch formuliert die Grundgedanken der Philosophie der normalen Sprache. Wittgensteins Gedanken übten einen ausserordentlichen Einfluss auf die Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, unter anderem auf die Sprechakttheorie von John Langshaw Austin und John Rogers Searle. Der Text richtet sich gegen die Philosophie der idealen Sprache, die neben Bertrand Russell und Rudolf Carnap vor allem Wittgenstein selbst noch in seinem ersten Hauptwerk, dem «Tractatus logico-philosophicus», vertreten hat. Nach jahrelanger Abstinenz vom philosophischen Denken wandte er sich ab 1929 wieder der Sprachtheorie zu, um schließlich in 693 Paragrafen seine frühere Theorie zu korrigieren. Sein Interesse richtete sich nun nicht mehr auf eine formal logisch konstruierte Idealsprache, sondern auf die normal gesprochene Alltagssprache. Was macht das Wesen unserer Sprache aus? Woran lässt sich die Bedeutung eines Wortes oder Satzes erkennen? Wie lernen Kinder ihre Muttersprache? Aufgrund welcher Regeln und Vereinbarungen gelingt es Menschen überhaupt, miteinander zu kommunizieren? In immer neuen Anläufen umkreist Wittgenstein diese Fragen, leidenschaftlich, akribisch, allerdings ohne dabei fertige Antworten zu liefern. Die vielen Beispiele und Situationen aus dem Alltag, mit denen er seine Argumentation illustriert, sind gerade durch ihre scheinbare Banalität erhellend, ja manchmal sogar erheiternd. Wittgensteins Spätwerk gilt als schwierig, weil es zum Nachdenken über etwas so Selbstverständliches wie die Sprache zwingt. (Allerdings ist dabei mit der Sprache über die Sprache zu reflektieren, das Medium der Erkenntnis ist gleichsam dessen Objekt, was sich auch nur bedingt mit der Hilfskonstruktion «Metasprache» vereinfachen lässt. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Der Teppich lässt sich nicht wenden, um auf seine Webart zu schliessen.) – Wittgenstein selbst schreibt im Vorwort, er habe mehrmals versucht, seine Ergebnisse «zu einem Ganzen zusammenzuschweißen», bis er einsehen musste, dass ihm dies nicht gelingen würde. Nichtsdestotrotz lassen sich eine Reihe von Thesen zu unterschiedlichen Themenkomplexen identifizieren, von denen insbesondere die Gebrauchstheorie der Bedeutung von Wörtern Eingang in die sprachphilosophische Diskussion der Neuzeit fand.

Die Gebrauchstheorie der Bedeutung richtet sich gegen die so genannte «realistische» Theorie, der zufolge gilt: «Jedes Wort hat eine Bedeutung. […] Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.» (PU 1). Nach dieser Theorie wäre die Bedeutung des Wortes «blau» ein abstrakter Gegenstand, die Farbe Blau eben. Für Wittgenstein ist dagegen die Bedeutung eines Wortes in den meisten Fällen durch seinen Gebrauch festgelegt: «Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.» (PU 43).

Anders formuliert wird dadurch die Vorstellung korrigiert, dass jedes Wort der menschlichen Sprache eine feste Bedeutung besitzt. In diesem Sinne bezeichnet das Wort «Tisch» oder «Stuhl» den Gegenstand Tisch oder Stuhl. Und Kinder lernen ihre Muttersprache, indem sie darauf abgerichtet werden, Menschen, Gegenstände, Formen oder Farben zu benennen, als ob überall Namensschildchen angeheftet wären. Man zeigt auf ein Ding und nennt dessen Namen. Diesen Vorgang, also das Benennen und Nachsprechen des vorgesagten Wortes, könnte man als «Sprachspiel» bezeichnen. Der Begriff trifft aber auch auf den ganzen Kosmos der Sprache und der Tätigkeiten, die mit ihr verbunden sind, zu. So wie sich nach verschiedenen Gesichtspunkten Werkzeuge in Werkzeugarten oder Schachfiguren in Figurenarten einteilen lassen, können auch Wörter und Sätze gemäss ihrer Funktion nach Wort- und Satzarten sortiert werden.

Wenn daher jemand «Platte!» ruft, kann er ganz Verschiedenes meinen, zum Beispiel einen verkürzten Satz im Sinne von: «Bring mir die Platte!» Der Ausruf «Fünf Platten!» kann eine Feststellung sein («Auf dem Stapel liegen fünf Platten») oder ein Befehl («Bring mir fünf Platten!»). Es gibt unzählige Arten der Verwendung von Wörtern und Sätzen: behaupten, befehlen, berichten, Hypothesen aufstellen, Geschichten erzählen, Theater spielen, einen Witz machen, bitten, danken oder fluchen. Diese zahlreichen Formen der Sprache – die sogenannten «Sprachspiele» also – sind nichts Festes, Gegebenes, sondern sie verändern sich; ständig entstehen neue und alte werden vergessen. So besehen, lässt sich auch einer der Kerngedanken der «Philosophischen Untersuchungen» besser begreifen: «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.» Mithin darf die Bedeutung eines Namens nicht mit seinem Träger verwechselt werden. Wer zum Beispiel sagt, «Herr N. N.» sei gestorben, meint damit den Träger, nicht die Bedeutung des Namens. Der Begriff «Bedeutung» bezeichnet also in den meisten Fällen den Gebrauch eines Wortes im Gefüge der Sprache. Dies bedeutet, dass Wörter ihre Bedeutung durch die Art und Weise erhalten, wie sie in verschiedenen «Sprachspielen» verwendet werden, und nicht durch eine abstrakte Beziehung zu einem externen Gegenstand. Wittgenstein betont somit den kontextuellen und situativen Aspekt der Bedeutung von Worten. Halten wir also fest, dass die Bedeutung von Wörtern nicht als abstrakte Entität betrachtet werden sollte, sondern als etwas, das im Gebrauch innerhalb der Sprachgemeinschaft entsteht und sich ständig verändert. Die Bedeutung eines Wortes wird durch seinen kontextuellen Gebrauch und die verschiedenen «Sprachspiele» bestimmt, in denen es verwendet wird.

Auch am Beispiel des Wortes «lesen» lässt sich zeigen, dass erst die Umstände, unter denen es gebraucht wird, seine Bedeutung festlegen. Das Wort «lesen» – verstanden als die Tätigkeit, Gedrucktes oder Geschriebenes in Laute umzusetzen – ist in unserem alltäglichen Leben allgemein bekannt. Die Rolle aber, die es in unserem Sprachgebrauch spielt, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Ab wann kann man sagen, dass jemand liest? Wenn er Silbe für Silbe entziffert? Wenn er die Augen über die Worte gleiten lässt und etwas auswendig Gelerntes daher sagt? Muss er etwas empfinden, muss er verstehen, was er liest – oder bloss wie eine Lesemaschine funktionieren und auf bestimmte Schriftzeichen reagieren? Das Lesen von Gross- oder Kleinbuchstaben, von Gedrucktem oder Morsezeichen ist nicht das Gleiche. Was also ist das Wesen von «lesen»? Wir gebrauchen das Wort für eine Vielzahl von Situationen und wenden daher von Fall zu Fall unterschiedliche Kriterien dafür an. Auf ähnliche Weise sind auch die Kriterien für das Wort «Spiel» deutlich komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Es gibt die verschiedensten Arten von Spielen: Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw. Worin besteht der Grund, dass wir sie alle «Spiel» nennen? Nicht alle sind unterhaltsam oder von Regeln begrenzt, nicht immer geht es um Gewinnen oder Verlieren, Geschick oder Glück. Manche Spiele spielt man zu mehreren, andere zu zweit oder allein. Nicht ein einziges Wesensmerkmal, sondern ein Netz aus sich kreuzenden Ähnlichkeiten macht das aus, was wir «Spiel» nennen. Der Begriff ist ohne feste Grenzen. Obwohl wir nicht genau definieren können, was «Spiel» ist, wissen wir es – ebenso wissen wir, wie eine Klarinette klingt, können es aber nicht beschreiben. Und in gleicher Weise schliesslich lässt sich unsere Sprache als Gesamtheit unserer Sprachspiele nicht auf ein einziges fundamentales Wesensmerkmal reduzieren. Die Erscheinungen, die wir als Sprache bezeichnen, sind lediglich auf verschiedene Art miteinander verwandt. Mit der Metapher Ludwig Wittgensteins kann man unsere Sprache daher ansehen als eine «alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.» (PU 18).

Christoph Frei, Akademisches Lektorat, CH-8032 Zürich

Bild:
Haus Wittgenstein, 3. Wiener Gemeindebezirk